Was war ’n das?

Ich würde sagen:

  • Ein klassischer Vers-Refrain-Song
  • mit groove- und banjo-generiertem Country-Einschlag
  • einer hübschen Melodie und
  • wunderbar augenzwinkerndem Text (über den noch zu reden sein wird)
  • live und mit einigem Understatement dargeboten
  • nach dem Motto: „Wir haben hier diesen Song, den wir euch gerne zeigen möchten und wisst ihr was, das machen wir jetzt einfach, wo ihr und wir schon mal alle zusammen im gleichen Raum sind.“

Nichts gegen eine gute Show, aber statt Gestalten, die wie Superstars posen, weil sie meinen, dann müsste doch jeder einsehen, dass sie welche sind, sehen wir:

Musiker am Werk — welche Wohltat.

Und somit ein Fall für mein

Songbook

Unter dieser Rubrik werde ich in lockerer Folge Musik vorstellen, die mein Herz erreicht und erklären, warum das so ist.

Ich beginne also mit dem Song Mother Dear des irischen Songwriters Neil Hannon und seines Projekts The Divine Comedy.

Das ist zwar bei Weitem nicht mein Lieblingssong von ihm, aber er knüpft textlich so schön an das Featured Video vom letzten Mal an:

Immerhin geht´s auch hier um das Thema Mutterliebe, und um ein paar grundsätzliche Qualitätsmerkmale klar zu machen, taugt er allemal.

Eines ist schon mal, dass mit den ersten Zeilen nicht augenblicklich Fremdschämen bei mir einsetzt.

Aber woran liegt das?

Weshalb berührt mich Mother Dear alles andere als peinlich und ist Neil Hannon einer meiner Lieblings-Songwriter, während Die Amigos...nun ja…?

Zunächst einmal zählt für mich gutes, inspiriertes Songwriting zu den höchsten musikalischen Künsten.

Echt?

Wie Symphonien zu schreiben, ein tierisches Jazz-Solo zu spielen oder Beethovens 9. zu dirigieren?

Ja. Schubert und Lennon/McCartney sind geniemäßig auf Augenhöhe.

Wobei die Kunst des Songwriting sich auch und gerade auf sprachlicher Ebene vollzieht.

Es braucht dazu also nicht nur einen mit allen Wassern gewaschenen Komponisten, nebst passenden Interpreten.

Sondern auch einen verdammten Poeten!

Manchmal findet das auf 3 Personen verteilt statt – Dionne Warwick etwa hat viele berühmte Original-Versionen von Songs des Autoren-Duos Burt Bacharach (Musik) und Hal David (Text) eingesungen –, manchmal in Personalunion, so wie hier.

Und damit wären wir beim Thema dieses und des folgenden Beitrags, denn was Texte angeht, schreibt Mr Hannon mit die besten, die mir je begegnet sind.

Deshalb wollen wir einen davon hier mal etwas genauer unter die Lupe nehmen.

Und da wäre zunächst die Frage:

Was unterscheidet den Amigo-Text vom Beitrag des letzten Monats (hier geht´s zum Beitrag, hier zum Text) von diesem hier?

Mother Dear

It was not that long ago it first occurred to me
That my mother was a person in her own right
Now I realize how very lucky I have been
And there, but for the grace of God, go I

Mother dear – she can see inside
Mother dear – and I’ve nowhere to hide
Mother dear – did I spoil your plans?
Mother dear – I do the best I can

When I was a teenager I really did believe
That my parents had adopted me
And the way I carried on they must have thought
They’d brought the wrong little baby home from maternity
I’d like to say I’m sorry but my…

Mother dear – she already knows
Mother dear – she’ll never let me go
Mother dear – kept me warm and safe
Mother dear – I’ll never lose my faith in mother dear

If I ever get arrested by the C.I.A.
Because they take me for a foreign spy
They won’t need no lie-detector, all they’ll have to do
Is make me look into my mother’s eyes

Mother dear – she can see inside
Mother dear – and I’ve nowhere to hide
Mother dear – kept me warm and safe
Mother dear – I’ll never lose my faith in mother dear

Mother dear – did I spoil your plans?
Mother dear – I do the best I can

Wir halten also fest:

Irgendwie mag auch Neil Hannon seine Mutter.

(Wer nicht sicher ist, was da los ist, findet hier den Versuch einer Übersetzung).

Der entscheidende Unterschied ist:

Im Schlagertext liebt der Erzähler seine Mutter. In diesem Text liebt er sie trotzdem.

Und zwar, wie der Refrain deutlich macht,

  • obwohl er sich zeitlebens von Muttern beobachtet fühlt und er – wie kindisch! – sein Bestes tun will, sie nicht zu enttäuschen – genau wir wir alle.
  • Obwohl er sich als Teenager von seinen Eltern unverstanden, verstoßen und ungeliebt gefühlt und sich im weiteren Verlauf seiner Adoleszenz standesgemäß wie die Axt im Walde aufgeführt hat – genau wie wir alle (Verfasser und Leser dieses Artikels natürlich ausgenommen…)

Äh, wo wir gerade dabei sind:

Hier kommt meine Theorie zum Thema, als Ex-Teenie und Vater eines (zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Artikels) 14jährigen geliebten Sohnes:

Pubertät dient evolutionsbiologisch in erster Linie dazu, dass sich die Eltern von den Kindern lösen, nicht umgekehrt:

Es wäre ein gar zu schmerzlicher Verlust, würde ein

  • stets gut gelaunter
  • sozial kompetenter
  • klar und deutlich artikulierender
  • umsichtig planender und obendrein noch
  • anerkannten Körperpflege-Standards genügender

Sonnenschein am Tag X die Familie in Richtung Autonomie verlassen…

Aber eigentlich ist ja hier der Unterschied zwischen tumbem Rumgereime und waschechter Song-Poesie das Thema (in diesem Zusammenhang gefällt mir der englische Begriff Lyrics).

Nächstes Mal, im 2. Teil,  geht´s genau damit weiter.

Für den Moment genug der Worte über Worte.

Bei welchen Songtexten hast du das Gefühl, sie treffen den Nagel auf den Kopf?

Welche bedeuten dir etwas und warum?

Jetzt klatscht endlich! Warum deine Kunst nicht von allen geliebt wird – und das OK ist. (Teil 3/3)
Wortgefecht: Die Amigos vs. Neil Hannon (Teil 2/2)

Volker Giesek

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