Der schon wieder

Genau, Neil Hannon mit dem Titel Mother Dear.

Dieses Mal nicht (wie im 1. Teil des Artikels) im Fernsehstudio mit Band unter optimalen Bedingungen, sondern allein mit seinem Lied, seiner Stimme und seinem Gitarrenspiel bei irgendeinem Keine Ahnung weiß auch nicht so genau was das jetzt sein soll-Event. Offensichtlich ein Handy-Mitschnitt.

Wer sich nicht ablenken lässt von der naturgemäß minderen Soundqualität, durchs Bild laufenden Gästen, sowie einigen sehr präsenten Hinterkopffrisuren und vordergründigen Hüten, wird feststellen: Astreine Gesangs- und Gitarren-Performance auch unter diesen Umständen – Respäääckt.

Und vor Allem: Der Song kommt rüber, auch in dieser minimalistischen Version. Solche Songs mag ich.

Wer möchte, kann sich gerne noch einmal den 1. Teil des Artikels samt Fernsehaufzeichnung von dem Titel anschauen. Zumindest aber wäre es eine gute Idee, die Worte der „Kontrahenten“ noch einmal im Gesamt-Überblick nachzulesen: „Mother Dear“ von Neil Hannon (The Divine Comedy) und „Mutter, wir danken dir“ von den Amigos.

Alles klar? Gut, dann also weiter im Text, genauer: Mit dem

2. Vers und Refrain

When I was a teenager I really did believe
That my parents had adopted me
And the way I carried on they must have thought
They’d brought the wrong little baby home from maternity
I’d like to say I’m sorry but my…
 

 

Mother dear – she already knows
Mother dear – she’ll never let me go
Mother dear – kept me warm and safe
Mother dear – I’ll never lose my faith in mother dear

Für den als Teenager empfundenen Mangel an Elternliebe findet Neil Hannon das Bild der Adoption, um gleich darauf, aus seiner mittlerweile erwachsenen Perspektive heraus, verständnisvoll den Blickwinkel seiner Eltern einzunehmen, in etwa: „Die hatten’s aber auch nicht leicht mit mir“.

Das Bild hierfür ist die von den Eltern vermutete Verwechselung der Babys auf der Säuglingsstation.

Teenager- und Elternperspektive dieser Lebensphase zeichnen sich im Text also beide durch das Gefühl aus, dass eigentlich kein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen Eltern und Kind besteht, die Familienbande erscheinen subjektiv aufgelöst –

Worst Case Scenario!

 

Mother Dear punktet mit Unentschieden

Die Standpunkte stehen durch diese, das Eltern-Kind-Verhältnis auf die gleiche Art unterminierende, ironisch-absurde Überhöhung („Wahrscheinlich sind wir gar nicht verwandt“) gleichberechtigt nebeneinander. Keiner ist Sieger, keiner Verlierer und beide haben Recht.

Schön auch der Dreh: „Ich würde mich ja gerne für den Kummer entschuldigen, den ich ihr bereitet habe, aber muss ich gar nicht, weil Mutter auch in dieser Hinsicht längst alles weiß und stillschweigend verziehen hat.“

Andererseits wäre der Erzähler vielleicht aber auch gerade froh, wenn ein Gespräch in Gang käme, er der Mutter seine eigenen Erkenntnisse, Beweggründe, Gefühle darlegen und erläutern könnte und nicht schon alles ohne Worte geklärt wäre…

So wie hier ist der gesamte Text im

Schwebezustand

zwischen ernsthaftem Bekenntnis und leichter Ironie.

Es steckt beides darin:

  • Wie schön! Meine Mutter kennt mich so gut wie sonst niemand auf der Welt, bei ihr fühle ich mich verstanden und geborgen und sie ist diejenige, der ich bedingungslos vertraue.
  • Wie schrecklich! Meine Mutter kennt mich so gut wie sonst niemand auf der Welt, von ihr fühle ich mich beobachtet und dazu verdonnert, ihren Erwartungen zu entsprechen.

Puh, ganz schön viel Reflexion über ein paar popelige Popsong-Zeilen.

Halb so schlimm, ich glaube nämlich, all diese Dinge werden auch unterschwellig auf emotionaler Ebene transportiert, ohne dass das Hirn rauchen muss:

Und zwar durch

  • die Schönheit funktionierender Bilder
  • einen guten Schuss Wortwitz und Humor
  • die stimmige Gesamtkonstruktion, die Dramaturgie
    (zu der nicht zuletzt die musikalische Ebene beiträgt, die entscheidenden Einfluss auf Wirkung und Bedeutung der Worte hat; siehe die Melodie beim 4 Mal wie ein Aufschrei wiederholten „Mother dear“ im Refrain: Was transportiert das inhaltlich?)

Wir spüren intuitiv, wenn etwas stimmig, ästhetisch und gut ist!

Um die Message zu begreifen, braucht man also gar keine messerscharfe Textanalyse zu schreiben.

Oder zu lesen…, schluck…

Ich mach mal lieber schnell weiter, bevor die geneigte Leserschaft zu bröckeln beginnt.

Und schon fällt mir auf, dass ich den

1. Vers

noch gar nicht erwähnt habe, aber gleich der hat es in sich und ich kann den Gedanken nachvollziehen, den er transportiert:

It was not that long ago it first occurred to me
That my mother was a person in her own right
Now I realize how very lucky I have been
And there, but for the grace of God, go I

Als Kind sind die Eltern für uns, nun ja, unsere Eltern eben. Von Gott (oder wem auch immer) als solche in unser Da-Sein gepflanzt. Ihre Hauptfunktion, wie sie sich für uns darstellt: Mama & Papa sein. Irgendwie gibt´s die beiden in der kindlichen Vorstellung ja auch nur im Doppelpack. Wird diese Einheit aus Bezugspersonen, die uns Orientierung liefert, getrennt oder trennt sie sich, ist das eine echte Katastrophe für das kindliche Gemüt.

Ich hatte davor jedenfalls Schiss, auch wenn der im Falle meiner Eltern unberechtigt war (sie sind zur Zeit beide Mitte 80 und ein großartiges, altes Ehepaar). Aber man stellt sich in jedem Lebensalter ja gerne schreckliche Sachen vor…

Erst während der Pubertät beginnen wir dann langsam zu verstehen, dass die Eltern ein Leben vor unserer Geburt gehabt haben. Jeder für sich und als Paar. Und dass wiederum auch dieses Paar aus 2 einzelnen Individuen besteht, mit allem, was dazugehört…

Und erst wenn wir erwachsen sind, wird uns klar, dass wir mit unseren Eltern im besten Fall ganz einfach Schwein gehabt haben (und sie letztendlich auch mit uns).

Fazit

Ein einfaches Vers – Refrain-Schema kann ganz schön gehaltvoll sein – oder eben auch nicht.

Ich finde, Vitamine für´s Hirn sind ein Qualitätsmerkmal.

Die durch den amigo´schen Mutter-Text ausgelösten Assoziationen jedenfalls hätten einen deutlich kürzeren Blogbeitrag ergeben.

Und bei all dem hab ich noch gar kein Wort über die letzte Strophe mit dem Lügendetektor bei der C.I.A. verloren. Muss ich aber auch nicht, das kriegst du selber hin…

In diesem so unbedarft countryschlagerhaft daherkommenden Popsong ist also in Sachen textlicher Tiefe ganz schön was geboten.

Ich fasse zusammen und stelle fest:

  1. Der Texter sagt nicht direkt und ausschließlich, dass er seine Mutter liebt, nein, er ist kein Plump-Sack, sondern findet Bilder, aus denen ein aktiver Zuhörer sich das und alles andere zusammenreimen muss.
  2. Der Text birgt, so gesehen, also etliche kleine Geheimnisse und Mini-Rätsel, die entschlüsselt werden wollen: Das Publikum darf mitmachen! Durchaus spannend, und jedes Mal ein wenig Genugtuung, wenn’s „geschnackelt“ hat.
  3. Er bebildert auf diese Weise universelle Erfahrungen, mit denen sich der Zuhörer identifizieren kann, weil er sie, samt der dazu gehörenden Gefühle, ebenfalls gemacht hat, manchmal sogar unbewusst und ohne sie selber formulieren zu können.
  4. Der Text schwafelt nicht, sondern bringt auf den Punkt. Er ist Destillat statt Plörre.
  5. Der Text sagt: Es gibt unterschiedliche Perspektiven.
  6. Und er sagt: Es gibt Humor, Halleluja! (Ein Album von Frank Zappa hatte den Titel Does Humor Belong In Music? – Hier ist die Antwort.)

Die Poesie von Neil Hannon ist somit alles andere als eindimensional. Vielmehr spiegelt sie „Das Leben, das Universum und den ganzen Rest“ (wie es Douglas Adams in seiner Roman-Trilogie Per Anhalter durch die Galaxis so schön ausgedrückt hat).

Noch mal den Text der Amigos zum Vergleich?

Nein?

Soll mir Recht sein…

Ich plädiere für

Ein ausgeglicheneres Verhältnis von Amigos- und Divine Comedy-CDs an deutschen Discounter-Kassen!

Aber wahrscheinlich hört wieder kein Schwein zu…

Wortgefecht: Die Amigos vs. Neil Hannon (Teil 1/2)
Was das Problem mit Wettbewerb in der Musik ist

Volker Giesek

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