Zum Vatertag hat mir mein Sohn Manuel (wo ich dies schreibe ist er 21 und studiert an der Hochschule der Medien in Stuttgart) etwas geschenkt, mit dem ich nicht gerechnet hatte:

Die Wiederentdeckung des Zuhörens.

Sie beginnt damit, dass ich Musik von ihm bekomme. Nein, keine peinliche Schmeichel-Hymne auf Super-Dad (sei sie auch noch so gerechtfertigt).

Vielmehr erreicht mich per romantischer WhatsApp-Nachricht eine Datei mit dem Titel „Musikempfehlungen_Papa.pdf“.

Dazu schreibt Manuel (Emojis wurden aus dem Autographen übernommen, auf Blog Around Sound wird korrekt zitiert!): „…anlässlich des Vatertags habe ich dir eine winzige Musik-Empfehlung zusammen gestellt. Vielleicht kannst du ja etwas damit anfangen! 😁“

Dann folgt etwas sehr Schönes, aber Privates, gefolgt von dem Hinweis „Ein Klick aufs Album-Cover bringt dich direkt zu Spotify! :)“

Yeah, Leute, das ist der Teil der Digitalisierung, den ich liebe!

Mein Geschenk ist also ein

Musik-PDF

Ich bin gespannt wie die zwei Oktaven zu hoch gestimmten Saiten meiner Bassukulele, also lade ich die Datei herunter, öffne sie und… freue mich, samt Mini-Wow:

Auf tiefschwarzem Hintergrund leuchten mir, in Links-Rechts-Anordnung, drei Albumcover entgegen. Darüber jeweils in Weiß Künstlername und Albumtitel. Das ist schon mal rein optisch ein Genuss. Neben jedem Cover steht eine kurze Einführung zur Musik mit weiterführenden Links, warum mein Sohn diese Musik mag und – besonders schön – welchen Platz das Album in seinem Leben hat.

Als Vatertags-Geschenk ist das ein voller Erfolg. Ich fühle mich geehrt und auch ein wenig geschmeichelt, dass er das für mich tut, die Zeit investiert und mich teilhaben lässt. Glänzend die Idee – glänzend Vaters Augen.

Dann denke ich nach.

Es ändert nichts.

Ich lese noch einmal den Begleittext zum ersten Album. Es heißt „Alpe Lusia“.

In dem Moment schickt Manuel einen weiteren Link, durch den ich erfahre, dass das Album zu großen Teilen auf einer Alm aufgenommen wurde. Aha, daher der Name, coole Idee. Es ist von dem mir bis dato unbekannten Künstler Stimming. Manuel schreibt:

„…eigentlich wahrscheinlich so gar nicht deine Musikrichtung, aber vielleicht kannst du ja trotzdem etwas daraus ziehen.

Ich mag das Album jedenfalls super gerne und ich finde es funktioniert gut als Ganzes!

Falls du keine Lust auf das gesamte Album hast, würde ich dir auf jeden Fall die Tracks
„Tanz für Drei“ und „Saibot“ empfehlen!“

Auf diese Art macht man mich natürlich maximal neugierig auf die Tracks – Achtung, Spoiler! – „Tanz für Drei“ und „Saibot“.

Also dann, „Tanz für Drei“, Tracklänge 8:55, das ist schon mal ordentliches 1970er-Jahre-Art-Rock-Niveau! Schnell noch ein technischer Check-up:

Alles klar, der Volumenregler befindet sich weit jenseits von Gut und Böse, immerhin ist heute Vatertag und hier braucht ein Vater dringend die Extraportion Dezibel für eine Evaluation der Musikempfehlungen seines Sohnes. Wer würde da schon den ersten Stein werfen? Und wo sollte er ihn überhaupt her bekommen? Oder sie. Natürlich.

Ich drücke auf „Play“, der Geist ist offen, die Augen geschlossen.


Es beginnt

[0:00] Ein – auf einem Holztisch? – mit den Händen getrommeltes zweitaktiges Rhythmus-Pattern etabliert sich. Etwas Hochfrequentes, Schellenringartiges markiert die Offbeats. Das klingt wie ohne größere technische Verrenkungen auf der Alm aufgenommen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich den Künstler, wie er, vor sich Laptop, Audio-Interface und Mikro, am rustikalen Küchentisch sitzt und dieses Pattern findet. Schön, dabei zu sein.

Gegensätze und Integration sind immer spannend. Ich beginne zu lächeln. Als ich merke, dass das Getrommel groovt, gleich noch ein bisschen mehr :)).

[0:15] Schon nach wenigen Durchgängen wird die handgemachte, akustische Version des Patterns übergeblendet in ihren Zwilling aus elektronischen Sounds.

Über die Taktart mache ich mir noch keine Gedanken, ich schwimme einfach mit dem Flow. (Später, während der Analyse für den Blogartikel, von dem ich jetzt noch nichts ahne, werde ich feststellen, dass es sich beim Kickdrum-Pattern um ein raffiniertes Konstrukt aus abwechselnd 4/4-, 3/4-, 4/4- und 5/4-Takt handelt, insgesamt also 16 Viertel, die gleiche Länge, wie sie schnöde vier 4/4-Takte hätten. Das Komplexe im Einfachen, Chapeau!)

So pulsiert das Ganze eine Weile vor sich hin.

Pünktlich meldet sich mein alter Wegbegleiter, das zwischen Frustgrau und Neidgelb changierende Ego-Teufelchen, zu Wort. Es hockt auf seinem Stammplatz, meiner linken Schulter, und lässt die Beine baumeln. Von dort hat es den perfekten Überblick über alles, was mir begegnet. Auf seinen Hörnern aufgespießt hat es eine Jazzharmonielehre, so dick wie die Erstausgabe der Lutherbibel (ich meine, aus den Augenwinkeln den Untertitel „…und wozu braucht man das alles?“ zu erkennen), des weiteren das Gesamtwerk Ravels sowie ein Kompendium mit Transkriptionen sämtlicher Melodien von Paul McCartney, Paul Simon und Sting. Das Gewicht muss fast erdrückend für das arme kleine Wesen sein.

„Ok, unn-kss, unn-kss, unn-kss, unn-kss… das kennen wir jetzt, kommt da noch was anderes?“, flötet Belzebübchen mit leicht hochgezogener Augenbraue. Dazu lässt es fragend seinen roten Dreizack kreisen. Er hat die Größe einer Pommesgabel.

[1:49] Die Frage steht den Bruchteil einer Sekunde regungslos im Raum, als uns plötzlich eine kurz aufflackernde Kombination aus Klavier und synthbrass-artiger Fläche anfällt, die sich unerwartet schnell wieder zurückzieht.

Genauso wie Teufelchen, das Arsch.

Dass dieser Sound so schnell ausklingt, empfinde ich spontan als unorganisch, aber spannend, es drückt gegen meine Hörgewohnheiten, klingt daher frisch, und das tut gut!

Übrig bleibt ein Ausklang, der an verwaiste Obertöne erinnert. Augenblicklich verkrümelt sich der treibende Groove frequenz-beschnitten in die zweite Reihe. Im Vordergrund stehen jetzt dazu kontrastierende, trockene Akkord-Tupfer von Synth und Klavier.

Weg mit den Filtern!

Freiheit für das Kaffeepulver!

[2:38] Der Rhythmus drängt wieder nach vorne.

Wenn man aufmerksam zuhört, ist hier viel Neues zu entdecken: Es glitzert, knarzt, pocht und puckert immer wieder subtil zwischen Four on the Floor-Groove, akkordischen Sound-Blasen und Klavier-Kürzeln in Slow-Mo.

[4:32] Dann zieht sich der Beat komplett zurück und der Flow gönnt sich und mir eine Pause. Übrig bleiben kristallklare Klaviermotive, Synth-Einwürfe und massiv mit dem Equalizer bearbeitete, gelegentliche Groove-Fragmente.

[5:11] Ich warte auf etwas Durchgängiges – und bekomme es: Ein elektronisches Ride-Becken mit Offbeat-Akzenten; dazu setzt ein Klavierlauf mit Sustain-Pedal an, immer schneller, immer weiter abwärts.

[5:20] Und dann – Boom! – sind mit einem Schlag alle meine Bekannten zurück. Wir feiern das Wiederhören. Das Klavier bringt sogar neue Melodien mit zur Party. Konkreter und bewegter als zuvor, aber immer noch maximal entspannt über dem treibenden Beat. Dieses Mal haben die Motive sogar Ohrwurm-Potenzial, es sind regelrechte Catchy Hooks (Angler wissen, wovon ich spreche). Die Harmonik hat ein paar Jazzakkorde dabei. Mmh, lecker!

[7:16] Ein fünftöniges Klaviermotiv gerät in den Fokus, will nicht gehen und wird schließlich, nachdem die Kick-Drum ausgesetzt hat, von einem weichen Synth-Pad-Sound übernommen. Während der Rest-Groove sich zurückzieht und immer mehr verblasst, wird allmählich eine Klang-Atmo hörbar und immer lauter.

Der Synthbrass-Sound wächst noch einmal aus dem Boden, wischt alle Reste vom Tisch und lässt mich allein mit der Atmo.

Sie klingt kalt. Sind da Stimmen? Eine Anmutung wie Wind, schließlich verhallt eine letzte, in ewiger Wiederholung gefangene Pulsation… dann Stille.

[8:55] Ein wenig erschöpft drücke ich die Pause-Taste.


Ich öffne die Augen. Soeben wurde mein Horizont erweitert.

Mit einem Tripp für Klang-Gourmets in vollendeter Dramaturgie.

Dann denke ich nach.

Dieses Mal ändert es einiges.

Ich versuche mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal in meiner Freizeit Musik wirklich zugehört habe.

Nicht schummeln, Volker: Mit angemessener Geisteshaltung und ohne Ablenkung zu-ge-hört!

Also

  • nicht beim Autofahren
  • nicht beim Kochen
  • nicht beim Joggen
  • nicht beim Essen
  • nicht beim Sex
  • nicht skippen
  • nicht stoppen
  • nicht quatschen
  • aufmerksam
  • neidlos
  • furchtlos
  • liebevoll
  • zugewandt
  • offen
  • frei
  • kein Ego
  • keine Vergleiche
  • keine Vorurteile
  • aushalten
  • wahrnehmen
  • verfolgen
  • lauschen
  • einlassen
  • eintauchen
  • entdecken
  • verzeihen
  • Neugier
  • Flow
  • Glück
  • Ewigkeit

    Amen.

    Arschtritt für Teufelchen.

Die Wahrheit ist erschütternd und peinlich. Für einen Musiker ober-peinlich.

Die Wahrheit ist: Ich kann mich nicht erinnern!

Das könnte an jenem Teil der Digitalisierung liegen, den ich noch nicht reflektiert genug zu nutzen gelernt habe.

Welchen Herausforderungen wir alle in dieser Hinsicht gegenüber stehen, ist schön am Beispiel meiner aktuellen Spotify-Startseite zu erkennen. Hinter jedem der folgenden Stichworte warten zwischen 5 und weit über 100 Alben / EPs / Singles / Podcasts auf meine Entscheidung:

  • „Zuletzt gehört“
  • „Release Radar“
  • „Für Volker Giesek“
  • „Bei Hörern von Alpe Lusia beliebt“
  • „Mehr wie Stimming
  • „Mehr wie Marillion“
  • „Ähnlich wie Matthias Bublath“
  • „Mehr wie Matthias Bublath“
  • „Basierend auf deinem Hörverlauf“
  • „Bleib auf dem Laufenden“
  • „Shows für Musikliebhaber*innen“
  • „Paul McCartney“
  • „John Lennon“
  • „Wieder reinhören“
  • „Pop aus dem Jahr 1983“
  • „Best ofs von Künstler*innen“
  • „Nur für dich“
  • „Empfohlene Alben“
  • noch mehr Playlists
  • noch mehr Podcast-Empfehlungen

Hab ich was vergessen? Bestimmt.

Eine typische, unbewusste Listening-Session entwickelt sich dann allzu oft auf folgende, tragische Weise:

Der Algorithmus leistet ganze Arbeit, ich möchte am liebsten gleich zehn Sachen auf einmal hören. Ok, irgendwo muss ich anfangen, dann klicke ich mal hier drauf, so, naja, das Intro zieht sich aber, komm schon, ich will keine Intros, ich will Songs hören, also Verlaufsbalken 30 Sekunden nach vorne, na bitte, da sind wir ja schon mitten im Chorus… hm, ganz nett, aber das kann unmöglich der stärkste Song auf dem Album sein, das kann ich auch und sie muss es besser können, hat ja schließlich eine Viertelmillionen Follower und ich nur 17, dann mal skippen… skippie-ya-ya, skippie-yippie-…, och-böh, das kenne ich ja schon, also gut, dann noch eins weiter… hey, ist das nicht der gleiche Synth-Sound wie auf dieser einen Nummer von… mal eben ins Suchfeld eintippen, so, da haben wir es ja schon… na gut, klingt doch etwas anders bei denen, gibt’s die eigentlich noch, haben die was Aktuelles am Start?, mal ihr Profil checken, oha, guck mal, da unten ist ein Solo-Album ihres Keyboarders vorgeschlagen, wusste gar nicht, dass der auch was solo macht…, ach so, nur ne Single… mannomann und frauofrau, dann nochmal zurück…, oder, ach, weißt du was?, ich glaub, ich hab inzwischen eh mehr Bock auf Podcasts, True Crime oder so, da war doch dieses geile Coverbild bei den Empfehlungen auf der Startseite vorhin…

Reicht, oder?

Als Ausschnitt einer sich im echten Leben viel länger hinziehenden Realsatire.

Und dann gibt es auch noch YouTube, Instagram, Facebook, TikTok, Twitter… ∞, hast du das gewusst?

Nein, früher war nicht alles besser, das ist Blödsinn. Aber ich habe schon in meinen Teenager-Jahren viel professioneller, wertschätzender und nachhaltiger Musik gehört, als es heute oft der Fall ist.

Paartherapeutinnen und ihre männlichen Kollegen empfehlen, Partner sollen Quality-Time miteinander verbringen, und diese, wenn nötig, sogar per Terminkalender planen.

Ich habe entschieden: Ich werde mich in Zukunft mit der Musik zum Sex verabreden (mit meiner Frau ist das geklärt). Keine Ahnung, ob das klappt, aber Versuche bis zum Lebensende ist es allemal wert.

Zwar lasse ich mir von Querdenkern und Corona-Leugnern gerne vorwerfen, ein Schlaf-Schaf zu sein. Aber meine Metamorphose zum Lausch-Lemming gilt es aufzuhalten!

Man soll ja bekanntlich beginnen, wenn es am schönsten ist. Also höre ich mir gleich mal in aller Ruhe, aufmerksam und von vorne bis hinten (!), Manuels zweite Musikempfehlung, afrikanischen Pop in Form des Albums „Mangalismo“ von Bongeziwe Mabandla, an. Einem Impuls folgend, mache ich mir ein paar Notizen, spontan, ungefiltert, ehrlich, einfach so, ohne irgend einen Anspruch (siehe unten).

Ich bin ganz nah an der Musik, also dort, wo ich hingehöre!

Hinterher drehe ich, wo ich schon mal schwebe, beseelt ein paar Runden an der Zimmerdecke.

Das kannst du auch!

„…eigentlich wahrscheinlich so gar nicht deine Musikrichtung“, hat mein Sohn geschrieben, „aber vielleicht kannst du ja trotzdem etwas daraus ziehen.“

Ja, vielleicht.



Nicht vergessen: „Ein Klick aufs Album-Cover bringt dich direkt zu Spotify! :)“

Die Forbidden Blue-Story
Enas Vermächtnis

Volker Giesek

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