Tja, das hat nicht geklappt – eigentlich wollte ich eine Einführung zur neuerlichen Präsentation des „Tonbilder“-Projektes von 2010 schreiben.

Aber meine Gedanken haben mich davongetragen, die Assoziations-Kette war kaum zu stoppen.

Nun ist es eher eine textliche Jazz-Improvisation geworden.

Der Slalom hat richtig Spaß gemacht beim Schreiben.

Wie ist das beim Lesen?


Marius Müller-Westernhagen

ist wieder da. Mit der Neueinspielung seines 1978er Albums „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“. Die hat er sympathisch bescheiden „Das Pfefferminz-Experiment“ genannt. Das ist geschickt, er lässt die Dinge in der Schwebe und eine Hintertür offen. Ein Experiment darf auch misslingen. Womit ich nicht sagen will, dass es misslungen ist. Das muss schon jeder für sich selber herausfinden. Auch Marius.

Um das Album zu promoten, gibt er natürlich Konzerte, ist zurück auf der Strasse, wie es im Song „Mit 18“ heißt.

Ich möchte zurück auf die Straße
Möchte wieder singen, nicht schön sondern geil und laut
Denn Gold findet man bekanntlich im Dreck
Und Straßen sind aus Dreck gebaut

Hm, da muss ich stutzen. Wäre er, wie seine Vorbilder, in Amerika geboren, würde er als Musiker einfach, und einigermaßen cool, gerne wieder back on the road sein. Dagegen klingt ich will zurück auf die Strasse für uns Deutsch-Sprachler eher so, als wäre Herrn Westernhagen plötzlich die Mietwohnung doch zu eng.

„Ok, ich habe es probiert, aber das mit der festen Adresse ist was für Spießer, einfach nicht mein Ding. Wieviel schöner war es da doch ohne festen Wohnsitz, zumal für echte, unzähmbare Rocker wie mich. Ich möchte zurück auf die Straße!

Obdachlos zwischen den Stadiontourneen, like a rolling stone – da müsste man sich dann Sorgen machen.

Doch es ist ja zum Glück anders gemeint. Diese Gewissheit durchströmt uns warm wie Leberkäs und wir sind beruhigt. Zudem stehen die Chancen nicht schlecht, dass MMW damals, nach seinem Durchbruch mit dem „Pfefferminz“-Album, gleich als erstes dafür gesorgt hat, dass er fortan nie mehr zur Miete wohnen muss. Und wenn er es doch mal tut, dann höchstens nur so zum Spaß.

Aber Marius ist schon in Ordnung, er sagt gute Dinge in Interviews. Auch hat er seinen Echo zurückgegeben, nachdem dieser Musikpreis 2018 den Rappern Kollegah und Farid Bang verliehen wurde, in deren stammhirn- und marketing-gesteuertem Weltbild es offensichtlich in Ordnung geht, sich für die Credibility im Reptiliengehege mit frauenfeindlichen, homophoben und antisemitischen Texten dicke zu tun.

Mit dem diesbezüglichen Statement auf seiner Homepage (dort auf der Startseite etwas laid back unter „Aktuell“ zu finden) zeigt Marius Müller-Westernhagen auf jeden Fall Rückgrat und ein Herz am richtigen Fleck!

Fun Fact am Rande: Kollegah heißt mit bürgerlichem Namen

Felix Blume

Ist das nicht der Hammer und einfach wunderschön?! Da finde ich es direkt schade, dass er sich für einen Künstlernamen entschieden hat.

Und unnötig obendrein: Felix bedeutet „der Glückliche“, und auch einer wie Kollegah ist doch bestimmt mal glücklich. Zum Beispiel beim Lesen seiner GEMA-Abrechnung oder wenn ein Schwuler mal so richtig auf die Fresse kriegt. Sogar eine passende Blume gibt es, die Titanenwurz. Das müsste doch Musik in seinen Ohren sein, da wären er und sein Ego bestimmt sofort mit einverstanden.

Auch die übrigen Key Features der Pflanze passen wie Kollegahs Faust aufs Schwuchtelauge: Die Titanenwurz stinkt nämlich erstens wie die Pest nach Aas und zweitens würde sogar ihr lateinischer Name jedem knallharten, kompromisslos Muskelmasse, Tötowierungstinte und Bling Bling an, in und auf seinem Körper anhäufenden Gangsta-Rapper gerecht: Amorphophallus titanum heißt übersetzt „Unförmiger Riesenpenis“ – besser hätte ich es nicht ausdrücken können!

Schade, dass Kollegah es nicht wenigstens mal als Felix Blume versucht hat. Wäre er damit im Gangsta-Fach gescheitert, hätte er immer noch umsatteln können auf „Belatzhoster Erklärbär im Kinder-TV“, beim Fernsehen sind sie immer auf der Suche nach guten Leuten.

Ähnlich wie mit Ich will zurück auf die Strasse geht es mir übrigens mit dem Motto der

Esso Tankstellen-Shops

Das heißt On The Run und damit selten dämlich.

Zugegeben, to eat on the run bedeutet soviel wie unterwegs essen, aber das, liebe Freundinnen und Freunde, ist der 22. (!) Eintrag im Wörterbuch – ich habe gerade nachgezählt. Alles davor bezieht sich auf jenes, was wohl bei jedem Durchschnitts-Teutonen der erste Reflex für on the run ist, nämlich, dass das auf der Flucht heißt!

Esso On the Run – wo Fat Tony Cottero, Narben-Freddie und Jimmy das Wiesel es sich am Bockwurstwärmer gemütlich machen, denn die Polizei hat Hausverbot.

Wieviele hochbezahlte Marketing-Honks haben das verbockt, indem sie die amerikanische Wendung einfach für Deutschland verwurstet und nichts gemerkt haben; muss man sich denn um alles kümmern?

Vielleicht liegt das mit meinem „Flucht-Reflex“ aber auch zusätzlich noch an den Lyrics zum 1979er Song „Ride Like The Wind“ von

Christopher Cross

It is the night
My body's weak
I'm on the runnnnnn ;)
No time to sleep

Das Album mit diesem Song gehört zu jenen Schallplatten (jawohl, Schallplatten!), die wir in unserer Clique damals rauf und runter gehört haben. Und dann noch mal quer.

Kein Wunder, bei einer Handvoll Nerds, die sich bis ins Koma begeistern konnten für Musik, aber auch alles, was mit Musik zu tun hatte.

Da fällt mir auf, das Wort Nerd ist schon wieder so ein Fall, scheint es mir doch nur unzureichend übersetzt mit Streber, Sonderling, Fachidiot, Tüftler, Außenseiter, wie es mein Wörterbuch vorschlägt. Müsste nicht noch etwas Positiv-Anerkennendes bis Verschroben-Sympathisches mitschwingen?

Wie dem auch sei, jedenfalls haben wir Streber, Sonderlinge, Fachidioten, Tüftler, Außenseiter (und ich schwöre, jeder einzelne von uns war all das gleichzeitig ;)) neue Veröffentlichungen der Crusaders, von Steely Dan, Stevie Wonder, Al Jarreau oder Randy Crawford (um nur einige zu nennen) nach allen Regeln der Kunst abgefeiert.

Was meistens hieß: Licht aus, Kerze an, Whiskey Cola rein, Eltern raus. Dann Musik schön laut und alles geil finden.

Es waren selige Momente…

Wenn wir derart aufmerksam lauschten, war da nicht nur Musik, sondern mit ihr die Gewissheit, dass eine Welt, die solches hervorbringt, weder komplett verloren noch von Grund auf schlecht sein kann.

Es war eine Messe.

Und die an den Werken beteiligten (Studio-) Musiker unsere heiligen Helden. Wir waren begeistert von ihren songprägenden Einspielungen, von erstklassigem kommerziellen Songwriting, magischen Hooks, Ohrwurm-Melodien, Lyrics, die den Namen auch verdienen.

Obendrein war all das auch noch umgesetzt in einer blitzsauberen, natürlich amerikanischen (das war 1979 ja so was von klar!) Produktion, bei der Geld offensichtlich keine Rolle gespielt hatte.

Dieses Gesamtpaket war für uns

Deutschländer Musikwürstchen

so unwiderstehlich wie eine eiskalte Cola samt Chio Chips „ungarisch“ im Freibad.

Eine der interessantesten Lektüren waren für mich damals immer die Besetzungsangaben der einzelnen Titel, meist auf der Innenhülle zu finden, also auf der Schutzhülle, die man aus dem Plattencover rechts seitlich herausgezogen hat und in welcher dann erst die eigentliche Schallplatte verborgen war.

Ja, liebe nachfolgende Generationen, es war eine Platz und Rohstoffe verschwendende Zeit. Beides ging in nicht unerheblichem Maße durch uns drauf. Für endlose Schallplattenregale und die Platten selber, ihre Cover samt Innenhüllen sowie deren Bedruck.

Niemand ist ohne Schuld. Aber wir waren schwach und wurden verführt.

Schlug doch das „Unboxing“ einer neuen Schallplatte jenes jedes späteren Smartphones dramaturgisch um Längen. Denn dort in der Innenhülle endlich schlummerte sie. Sorgfältig und aus einem Stück gefertigt aus glänzendem, tiefschwarzem Vinyl. Schon rein optisch die pure Verheißung.

Und eine grafische dazu, man konnte nämlich deutlich erkennen, wo sich die Spur (der Track) für die Stille zwischen den Titeln weitete. Ja, tatsächlich, man konnte Songs und Stille nicht nur hören, sondern auch sehen.

Überhaupt bestand das Gesamtkonzept „LP“ aus weit mehr als nur Klang.

Vor meinem geistigen Auge erscheint zum Beispiel der brennende Typ, der dem anderen wie zur Begrüßung die Hand reicht, obwohl es unter diesen Umständen wohl eher zum Abschied für immer sein dürfte… Ja, das Cover von Pink Floyds „Wish You Were Here“ ist unauslöschlich in meinem Hirn, nun ja, eingebrannt. Man bedenke: In einer Welt ohne Photoshop haben die da wirklich einen Stuntman angezündet (OMG!) – und sich danach hoffentlich mit dem Knipsen beeilt…

Zur Beruhigung der jüngeren Leser: Der Mann hatte ganz, ganz dicke Spezial-Feuerschluck-Unterwäsche an. Das hat nur so gruselig ausgesehen, in echt ist dem gar nichts passiert.

Genauso klar und deutlich erinnere ich mich an die abgefahrenen Phantasiewelten von Roger Dean, die eine Zeit lang den Alben der britischen Art-Rock-Band Yes ihren optischen Stempel aufgedrückt haben. Siehst du, ich kann mich sogar noch an den Namen des Grafikers erinnern, und habe ihn nicht gegoogelt, wow!

Gute alte Cover Art, du weißt ja gar nicht, wie sehr ich dich vermisse!

So viel dürfte jeder von Lernpsychologie verstehen: Mehrere an der Wahrnehmung beteiligte Sinne bedeuten nicht nur ein intensiveres momentanes Erlebnis, sondern auch bessere Verankerung der so präsentierten Inhalte im Langzeitgedächtnis.

Und dann kam zum Hören und Sehen ja sogar noch der Tastsinn hinzu!

Ich kann jedenfalls noch genau spüren, wie die Kante der LP sich in den Handballen meiner linken Hand drückt, während die Mittelfingerspitze die Schallplatte auf dem Label der dem Boden zugewandten Seite stabilisiert. Alles, damit ich mit der rechten Hand und dem obligatorischen Antistatiktuch versuchen kann, der ja doch immerhin diamantenen Nadel des Tonabnehmers vor dem Erreichen des gelobten Randes, also der Einlaufrille, den unwürdigen Abstieg durch eine Schicht hanseatischen Hausstaubs samt zugehöriger Milben zu ersparen.

Irgendeine Wendung, in der etwas wie „Musik begreifend erfahren“ vorkommt, klänge jetzt schön und schlau, aber leider auch nach akademischem Aushilfs-Giesek, lassen wir das also lieber weg – oh, zu spät, da steht es schon, ürgh…

Tja, Hören, Sehen, Fühlen. Für eine ganz kurze Zeit waren sie alle mit dem Musikerlebnis im privaten Rahmen verbunden – und im Urkontinent Pangäa Südamerika mit Afrika!

Im Vergleich damit wird Musik als Stream oder Download buchstäblich eindimensional präsentiert.

Ich frage mich manchmal, ob es unter den gegenwärtigen Umständen

Neue Musik-Ikonen

geben wird, ja überhaupt geben kann. Falls ich mir dann antworte, wage ich es zu bezweifeln. Denn wenn ich Musik-Ikone sage, meine ich nicht bekannt oder reich durch Musik. Nein, ich spreche von einem Platz im kollektiven Bewusstsein des musikinteressierten und -begeisterten Teils der Menschheit. Von einer Art musikalischem Weltkulturerbe. Wie Mozart, Beethoven, Schumann – nur ohne hochsubventionierten Kulturbetrieb, der (zurecht) dafür sorgt, dass die Jungs schon keiner vergessen wird.

Ein Test für alle Baby Boomer (geboren zwischen 1955 und 1969): Was passiert in deinem Hirn, wenn du hörst: Abbey Road; Sgt. Pepper; Revolver (alleThe Beatles) – erklingt in dir Musik oder siehst du den Zebrastreifen mit den 4 Beatles im Gleichschritt darauf; die Beatles in ihren bunten Phantasieuniformen vor der Wimmel-Collage; die schwarzweiße Zeichnung der Beatles-Köpfe von Klaus Voormann? The Dark Side Of The Moon (Pink Floyd) – da ist das dreieckige Prisma vor dem schwarzen Hintergrund, richtig? Vielleicht geht ja sogar noch Nevermind (Nirvana) – das unter Wasser schwebende Baby und der Geldschein, genau!

Wie aber soll man ohne Ikonographisches zur Ikone werden?

Dabei gibt es heutzutage so viele Bilder im Zusammenhang mit Musik wie niemals zuvor – in Form von Videos.

Zu viele.

Ikonographische Musikvideos? Mir fallen da spontan Michael Jacksons „Thriller“-Video und das zu „Sledgehammer“ von Peter Gabriel ein. Ach herrje, beide Künstler tief verwurzelt in der Analogen Ära. Kein Wunder, ich ja auch.

Welche Videos, welche ikonographischen Bilder, welches Körpergefühl kennt jeder Millenial, also jeder zwischen 1981 und 1995 geborene, im Zusammenhang mit Musik? Und welche kennen alle, wirklich alle Angehörigen der nach 1995 geborenen Generation Z?

Traut euch und schreibt es mir, bedenkt allerdings: Körpergefühle infolge der Einnahme quietschbunter Pillen im Darkroom des Berghain zählen nicht ;))!

Marius Müller Westernhagen also. Der war nie so mein Ding, musikalisch. Und textlich eigentlich auch nicht… Oh weh, da wird es dann eng, oder? Es könnte gut sein, dass auch ich nicht sein Ding bin, musikalisch und textlich. Hm, was machen wir jetzt?

Am besten nichts weiter.


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Volker Giesek

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