Psst.

Ruhe bitte.

Ich bin noch nicht fertig…

Ich denke noch nach… über Corona.

Dabei wäre ich so gerne ein Vordenker.

Oh, gutes Stichwort.

Es gibt ein sehr lesenswertes Buch von Richard David Precht mit dem Titel

Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?

Es ist ein guter Titel.

Er ist neu und originell, er fordert uns heraus, er ist verwirrend und erregt gleichzeitig unsere Aufmerksamkeit.

Die Titel-Frage ist wie eine semantische Escher-Skizze: Wir stutzen, sind verunsichert, doch auch fasziniert und neugierig: Was steckt wohl dahinter?

Vielleicht bekommen die Dinge hier eine neue Perspektive, vielleicht können wir etwas lernen. Her mit dem Buch!

Escher Sketch

…heißt denn auch ein Titel des leider viel zu früh verstorbenen Saxofonisten Michael Brecker.

Unser Hirn ist hin und hergerissen: Ist das jetzt 12/8-Swing oder doch eher 6/4-Funk?

Für beides gibt es das ganze Stück hindurch ausreichend Indizien.

Klingt verrückt? Ist es auch.

Neugierig? Hörs dir an.

Das Album, auf dem sich Escher Sketch befindet, heißt passender Weise

Now You See It – Now You Don‘t

…und rate mal, was sich Herr Brecker als Cover Art ausgesucht hat?

Ha!, ein Bild von Maurits Cornelis Escher, genau, wie hast du das erraten?

„Hmmm, voll krasses interdisziplinäres Kunst-Konzept“, höre ich dich raunen und ich raune gerne mit.

Das sind schöne Bilder.

Auch für die Corona-Pandemie und was sie mit uns macht.

Mein Hirn jedenfalls fühlt sich zunehmend an wie ein schwabbeliger Hin- und Herwackelpudding.

Wenn ich nur mehr Dinge im Zusammenhang mit diesen haarsträubenden Zeiten wirklich wüsste, würde ich hier eloquent und brillant argumentierend alle in meinen Bann ziehen.

Aber so?

Anfangs war ich noch Söder, dann (schwabbel, wackel) mehr so Laschet und Ramelow.

Hin: Hey, schau mal, die Schweden zeigen, was möglich ist: Eigenverantwortung statt Lockdown, offene Spielplätze, Kitas, Schulen, Cafés… coole Hunde da oben…
Und her: Oh, nein, doch nicht, die coronabedingten Todesfälle in schwedischen Altenheimen explodieren und mit ihnen mein rosarotes Schwedenbild.

Hin: Klar, Maske und Abstandsregeln müssen sein, keine Frage, auch wenn sie gewaltig nerven.
Und her: Was? Die lassen trotzdem die Bundesliga wieder anlaufen und es wird diskutiert, in Flugzeugen die Mittelreihe zu be- und die Abstandsregel damit auszusetzen? Wo ist mein Aluhut!? Und hat jemand meinen Kompass gesehen, ich weiß gerade nicht, wo ich bin?

Hin und Her simultan, aka „Pfff… na ja… also ich würde sagen… nee, wart mal…“, geht so:
Ist das gratis Rumgestreame von Konzerten aller Art auf YouTube, Facebook und Instagram jetzt die Rettung oder böse, Must-Have oder Todesstoß für das Auslaufmodell des seinen Lebensunterhalt ausschließlich durch Konzerteinnahmen bestreitenden Bühnenkünstlers?

Die einen sagen so, die anderen so, alle haben nachvollziehbare Argumente.

Und was habe ich?

Zu vielem im Zusammenhang mit dem Virus keine klare, belastbare Meinung mehr, allerhöchstens noch eine leise Ahnung, aber reicht die schon, um das eigene Handeln konsequent danach auszurichten?

Selbstverständlich habe ich im Rahmen meiner Lehrtätigkeit an der BFS das etwas fummelige Prozedere der Desinfektion der Klaviertasten vor und nach jeder Unterrichtsstunde auf mich genommen und auch alle anderen Hygienevorschriften beachtet.

Doch dann, neulich, ganz plötzlich, hatte ich das erste Mal das Gefühl, eines Tages könnte der desinfektiöse Overkill meiner Einsicht und des guten Willens drohen.

Möge der Impfstoff kommen, bevor es so weit ist.

In der Schule haben wir Pump-Spray-Fläschchen und Papiertücher für das Desinfizieren der Tastaturen. Das ist gut so. Schmierinfektionen sind nicht komplett auszuschließen.

Um die Klaviermechanik zu schützen, darf die Tinktur aber nicht direkt auf die Tasten gesprüht werden.

Sie wird zunächst – pft…pft…pftpftpft – auf ein Papiertuch aufgebracht und derart benetzt darf man sich ihnen dann damit nähern.

Natürlich muss hinterher auch das begrapschte Fläschchen desinfiziert werden.

Also dann, noch einmal: Fläschchen in die eine Hand, Papiertuch in die andere, pftpftpftpftpft, Fläschchen desinfizieren,… aber halt!, dies hier ist

Level 2 mit Zusatz-Challenge

Desinfizieren, ohne das Fläschchen mit der anderen, nackten, potentiell kontaminierenden oder möglicherweise kontaminiert werdenden Hand zu berühren. Ja, klar, sehe ich ein, sonst macht das alles natürlich keinen Sinn.

Also noch ein Papiertuch für die andere Hand; aber Mist, irgendwie flutscht das immer alles weg hier, aaaarghh, was für ein Scheiß!

Halt, was war das?

Hat sich die Düse am Pump-Sprühkopf gerade für den Bruchteil einer Sekunde zu einem dreckigen Grinsen verzogen, oder habe ich mir das nur eingebildet?

Jetzt ist da auch noch so ein rätselhaftes Pock-Pock-Pock-Geräusch… .

Holy shit, bitte nicht! Die nächste Schülerin klopft schon an und ich bin laut Hygienevorschrift, Paragraph Dings, Absatz Bums, aufgerufen, allen Schüler*innen die Tür zu öffnen, damit sie nicht einer nach dem anderen die äußere Türklinke anfassen und eines qualvollen Todes sterben oder sterben lassen.

Ähm, wart mal, hätte ich „einer nach dem anderen“ nicht auch gendern müssen, wenn ich vorher schon Schüler*innen benutzt habe? Egal, die Zeit drängt, muss auch mal so gehen…

Verdammt,… zu spät, ich war zu langsam!

Mein feuchttücherner Corona-Kreuzzug ist nicht einmal in der eingestrichenen Oktave angekommen, da erblicke ich durch den Vorhang der direkt auf die Tasten pladdernden Schweißtropfen schemenhaft, wie sich unheilvoll und in Zeitlupe die Türklinke senkt.

Uiiiiiiiiikkk

Oh Gott, die kommt jetzt einfach selbstständig rein!

Die Maske, wo ist meine Maske?!? Uh-oh, ganz hinten auf dem Fensterbrett.

Schon klafft ein Türspalt, ich stürze zur Maske, zwei gekonnte Bewegungen, sitzt.

„Darf ich schon reinkommen?“ – „Du bist ja schon drin.“

Wieder einmal hat Volker, der allzeit bereite,

stets freundliche BFS-Dozent, die Fassung bewahrt.

Da schießt mir durch den Kopf: Oh Gott, die Türklinke! Ich muss sofort die äußere Türklinke… aber dieses Mal – ha, ich bin ja nicht blöd! – zupfe ich mir gleich zwei Tücher aus der Box, eins zum Anfassen von meinem alten Freund Fläschchen, und – Moment, noch mal schnell in den Hygienerichtlinien nachgeschaut… direkt auf die Klinke sprühen?… darf ich, ja – eines zum Abwischen der Klinke.

Komm schon, reiß dich zusammen, Volker, jetzt bloß keine nackte Haut an Klinke oder Fläschchen, sonst geht das alles von vorne los.

Ich umwickle den Flaschenkörper also besonders sorgfältig mit Papier und widme mich der Türklinke.

Uff, geschafft, schweißgebadet sinke ich, anmutig wie eine 90-Kilo-Schneeflocke, auf den Klavierhocker, der Stoff meiner Maske beult sich rhythmisch ein und aus.

Ok… (ein – aus), lass uns… (ein – aus) mit der Klavierstunde… (ein – aus) beginnen (ein – aus).

Traditionell wird die Stunde von Schülerseite mit der Begründung eröffnet, warum man die vergangene Woche leider so gar nicht zum Üben… man wisse selbst, das sei scheiße,… aber probiere es jetzt einfach trotzdem mal.

Ja, großartig, tu das, wird bestimmt super.

Aber dieses Mal ist alles anders.

Mit strahlenden Augen wird mir mitgeteilt, dass der Song jetzt schon richtig gut laufe (ich vermute ein Lächeln unter der Maske).

Doch obwohl ihre Hände schon auf den Tasten ruhen, fängt meine Schülerin nicht an zu spielen.

Statt dessen scheint sie über etwas nachzudenken.

Schließlich legt sie die Hände zurück in den Schoß und sinniert mit gerunzelter Stirn sowie in die Unendlichkeit gerichtetem Blick:

„Sag mal, Volker,… wenn du… das Fläschchen… nur unten rum einwickelst,… so wie gerade,… was ist dann… mit deinem Zeigefinger? Der hat doch jetzt nackt auf dem ungeschützten Sprühkopf rumgedrückt. Just saying…“.

Das Cluster, das mein Kopf in die Tasten des Lehrerklaviers betoniert, hätte sogar Freejazz-Ikone Cecil Taylor neugierig den Kopf heben lassen.

Meine Schülerin und ich haben dann den Rest der Stunde mit Erste Hilfe-Maßnahmen, der Desinfektion von Fläschchens Pump-Sprühkopf und der Tatortreinigung des blutigen Lehrerklaviers verbracht. Sie hat mir das Stück dann in der nächsten Woche vorgespielt.

Es klang wirklich schön.


Ok, ok, das war natürlich etwas überzeichnet. Der unbedingte Unterhaltungswillen ist wohl mit mir durchgegangen.

Aber so oder so, du ahnst es bereits:

Ich finde Pandemie doof und mich selber darin eher so mittel

Dabei bemühe ich mich, auch und gerade jetzt, solidarisch, hilfsbereit, unerschütterlich, konsequent, zugewandt, optimistisch, unabkömmlich, präsent, professionell sowie kompetent nach kreativen Lösungen suchend rüber zu kommen.

Aber halte ich das durch?

Corona fühlt sich für mich an wie ein nie da gewesener, groß angelegter, weltweiter sozio-ökonomischer Feldversuch.

Getestet wird unter anderem Folgendes:

Was macht es mit einer Lebensform, die sich seelisch vom dreidimensionalen, alle Sinne einbeziehenden Austausch mit anderen Exemplaren der selben Lebensform nährt, wenn dieser Austausch gar nicht mehr oder aus guten Gründen nur unter strengsten Spaßbremsen-Auflagen möglich ist?

Und, herrje, was macht es dann erst mit einer Lebensform, die sich von diesem Austausch über sogenannte „Eintrittsgelder“ oder „Gagen“ (kennt die noch jemand) ernährt?

Nichts Gutes, und diese Meinung ist dann auch endlich mal eine Gewissheit.

Wer bin ich – und wenn Musiker,

wie viel bleibt gerade von mir übrig?

Wem Altersvorsorge und Selbstvertrauen dahinschmelzen, ist doppelt gearscht.

Musikerinnen und Musiker definieren sich naturgemäß auch und gerade über Musik. So stolz, wie der Vielflieger seine „Miles & More Gold Card“ präsentiert und Tiefflieger Donald Trump der Kamera (und damit uns) immer wieder wie ein Erstklässler seine fehlerfrei gelungene Unterschrift, präsentieren wir dem Publikum unseren neuen Song, die rattenscharfen Quartenakkorde in der linken Hand oder geben uns gemeinsam nerdigen Equipment-Diskussionen und speziell in jungen Jahren feuchten Träumen über den sogenannten „Durchbruch“ hin (die manchmal sogar in Erfüllung gehen).

You don’t know what you got till you lose it

Diese alte Singer-Songwriter-Weisheit ist so abgegriffen wie wahr.

Bei Konzerten wussten wir zwar immer schon, was wir an ihnen haben. Aber es sind ja nicht nur die Konzerte…

Fast der komplette Musikeralltag findet nicht mehr statt!

Dinge wie Akquise, Proben, Instrumente schleppen, Setlisten ordnen, Rekapitulieren und viele andere Alltäglich- oder zumindest Allwöchentlichkeiten.

Zusätzlich war das vorcoronöse Musikerleben aber noch von etwas anderem, Sinn stiftendem und Wertvollem, durchzogen:

Dem mühelosen, permanenten Austausch mit Kolleginnen und Kollegen!

Der hat mich unablässig mit Energie versorgt und motiviert, mich sowohl als Mensch als auch Musiker genährt und mir immer wieder, einfach so nebenbei, den Beweis geliefert, dass ich Teil einer Community, einer „Szene“, also auch außerhalb der Schulmauern beruflich am Leben und nicht überflüssig wie ein Kropf bin.

Wir sind, was wir sind, weil wir tun, was wir tun.

Klar sind wir, was wir tun,

aber wollen wir nicht auch tun, was wir sind?

Jedenfalls können wir beides im Augenblick zu wenig.

Bis auf sehr viel Weiteres wird es Konzerte nur noch mit drastisch reduzierter Zuschauerzahl geben. Wenn sich das für Clubs und freie Spielstätten nicht rechnet, wird es mit den Auftrittsmöglichkeiten noch enger als vor Corona.

Ich vermisse Perspektiven, für die es sich lohnt zu komponieren, zu arrangieren, zu texten, zu üben, kurz, Musiker zu sein.

Ich vermisse den Ratsch über alles und nichts während des Soundchecks, ein Proben-Palaver über die Gestaltung des Übergangs vom Chorus zurück in den Vers. Zu gerne würde ich einen Schüler einfach mal wieder von der Klavierbank buffen und ihm kurzerhand vorspielen, was ich meine. Wo ist der Blick in unvermummte, mal konzentrierte, mal beseelte Gesichter auf und vor der Bühne? Nicht zu vergessen das „Bier danach“, beim Hangout mit den anderen geliebten Wahnsinnigen und bestimmt noch 1000 andere Sachen…

Aber der Platz wird knapp und irgendwann muss ja auch mal Schluss sein.

Auch mit Corona, davon dürfen wir ausgehen.

Nein, wir müssen!


So, jetzt seufzen wir alle mal gemeinsam in die Armbeuge (die eigene, bitte!) und dann gilt das Gleiche wie immer:

Gesund bleiben und nicht unterkriegen lassen!

Auch wenn unser Schlachtruf im Augenblick etwas gedämpft durch die Maske muffelt, brauchen wir mehr denn je „Packen wir‘s an“-Energie statt „Leck mich am Arsch“-Haltung, Kreativität statt Selbstmitleid, Integration und Gemeinschaft statt Abschottung!

Bei jedem Problem nach einer Lösung zu suchen, sich zu rühren, hält uns am Laufen, gibt uns eine Perspektive

Vielleicht besteht der viel beschworene

Sinn des Lebens

einfach darin, dass es uns permanent herausfordert und wir uns diesen Herausforderungen stellen. Um dann einige von ihnen zu meistern, andere nicht – und hoffentlich nicht k.o. zu gehen (obwohl auch das zwischendurch passieren kann).

Keiner erwartet, dass wir ausnahmslos alles „wegmeistern“, was das Leben für uns bereit hält. Aber wir können es probieren, immer wieder.

Mit etwas Glück (und das gehört wie immer dazu) sind Corona und unser Umgang damit am Ende wie ein Bild M. C. Eschers:

Es widerspricht unseren Reflexen, unserem Bauchgefühl, es lässt die Welt Kopf stehen und macht keinen Sinn.

Aber bei näherer Betrachtung entdecken wir neue, im doppelten Wortsinn „verrückte“ Perspektiven.

Ich wäre gerne der festen Überzeugung,
wir können durch die Pandemie etwas lernen.

Über uns selbst, unsere Welt, unser Leben.

Was das genau sein könnte?

Hm, ich meine schon ein paar Dinge entdeckt zu haben, aber lass mich noch einmal genau nachdenken, um sicher zu gehen.

In aller Ruhe…

Aber wundere dich nicht, das kann jetzt ein Weilchen dauern.

Du weißt, warum.

Now You See It – Now You Don‘t.

Coronarama – ein Gedicht zur Pandemie
Ein schöner Tag

Volker Giesek

10 Comments

LEAVE A COMMENT

Leave a Reply to Volker Giesek Cancel Reply