Willy Michl, seines Zeichens Münchner Musik-Original und Isarindianer (da zu seiner Bühnenpersona entsprechender Feder-Kopfschmuck gehört), hat schon mit einem Albumtitel von 1979 wissen lassen: Ois is Blues.
Ich, seit 1983 Wahl-Bayer, und der Google-Übersetzer Bayerisch <> Deutsch sind sich einig: In hiesiger Amtssprache bedeutet das “Alles ist Blues”.
Damit hat Willy Michl fraglos Recht. Sowohl musikhistorisch als auch, was den Zustand der Welt betrifft – 2025 mehr denn je.
Blues ist eine Art popmusikalischer Ur-Vater. Seine DNA findet sich in all seinen Kindern, naturgemäß am meisten davon in der ersten Generation, dem Jazz.
Dessen Grundvoraussetzungen sind der Wille und die Fähigkeit, seine Gefühle nach außen zu tragen. Das ist nicht jedermanns Sache. Auch nicht jedefraus. (Eigentlich wollte ich damit einen dieser lahmen Boomer-Gender-Gags landen, aber die Wendung „jedefraus“ gibt es mittlerweile wirklich, ich habe es gegoogelt. Also bitte auf keinen Fall lachen.)
Wer mit jeder Interpretation oder Improvisation potenziell Neuland betreten will, sollte keine Angst haben (vor Fehlern, den Mitmusikern, dem Publikum…), sondern mutig und vertrauensvoll die Kontrolle abgeben. Erst wer dazu bereit und somit befreit ist, kann auf rhythmischer und tonaler Ebene kreativ werden, hat die Möglichkeit “die Welle zu reiten” und damit eine Chance auf Flow.
Dabei geht es nicht um kalte Perfektion, egoistische Selbstdarstellung, eine Zirkusdarbietung, Athletik oder makellose, aber entseelte Schönheit, sondern um persönlichen Ausdruck! Etwas, das im Instagram- und YouTube-Shorts-Zeitalter leider einen zunehmend schweren Stand hat.
Scheps ist schön!
Na gut, unter Umständen… (die zum Beispiel Blue Notes oder Tom Waits heißen).
Scheps heißt schräg und die letzten Monate und Wochen habe ich aus persönlichen, künstlerischen sowie bundes- und weltpolitischen Gründen als äußerst schräg empfunden.
Hier zwei willkürlich gewählte Momente auf meiner Achterbahnfahrt der Gefühle:
😀 Juhuu, wir proben mit meiner Band Colorbox und werden nach einem Warm-up-Konzert ein neues Album mit meinen Stücken aufnehmen!
😏 Ach so, doch nicht. Ist aus gesundheitlichen und privaten Gründen bei einem Bandmitglied auf unbestimmt verschoben…
😎 Cool, die smarte Kamala Harris löst Joe Biden als Präsidentschafts-Kanditatin ab, da ist ja wohl klar, dass Trump einpacken kann.
🥳 Der amtierende U.S.-König, äh, „Präsident“ heißt Donald J. Trump, ein rechtskräftig verurteilter Krimineller und Lügner mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung und nicht nur einem zumindest fragwürdigen Haarschnitt, sondern auch Frauen-, Menschen- und Weltbild! Ihr wisst, was er in den ersten Wochen seiner Amtszeit bereits alles kaputt gemacht hat. Ich weiß es auch. Man kann ihm nur wünschen, dass er eine gute Berufshaftpflicht-Versicherung hat. Hiermit ist der Absatz beendet.
Auch die Ereignisse in Deutschland wirkten nicht gerade Blutdruck senkend (in meinem Alter ist das eine Kategorie). Als Spitze des Eisbergs fallen mir spontan ein:
- Der Aufstand der Polit-Zwerge: Die FDP, Christian Lindner und das „D-Day“-Papier
- Ampel-Chaos und Neuwahlen
- Das “Zustrombegrenzungsgesetz”. Was für ein Wort! Nach dem ersten Schauder muss ich aber auch schmunzeln, denn es klingt wie aus einer lautmalerischen Monty Python / John Cleese-Parodie der deutschen Sprache
- Die „Brandmauer“ gegen die AFD und das Verhalten von Friederich Merz, der da – genialer Merz-Move! – mal eben mit dem Feuerwehr-A-Schlauch draufgehalten hat.
- Eine von Menschen mit Migrationshintergrund verübte Anschlagsserie (Magdeburg, Aschaffenburg, München), ausgerechnet in den letzten Wochen vor der Wahl!
Jetzt, kurz danach, ist mir immer noch ein wenig schwummerig. Einerseits vom – erwartbaren und vorausgesagten – Ergebnis, aber auch von all den Statistiken, Balkendiagrammen, Grafiken, die vorher, während und danach auf uns niederprasselten.
Eine Info hat mir dabei allerdings gefehlt: Mich hätte interessiert, wie z. B. die AFD (aber auch jede andere Partei) bei Künstlerinnen und Künstlern abgeschnitten hat. Bei Musikern, Bildhauerinnen, Malern, Schriftstellerinnen, Fotografen… Dazu habe ich leider kein Tortendiagramm gefunden. Falls ich jemals an diese Informationen komme, backe ich mir selber eins.
Nein, Kunstschaffende sind nicht automatisch bessere Menschen, dafür gibt es genügend traurige Beispiele, vielleicht kennst du selber welche (also außer mir jetzt). Aber ich behaupte, sie machen Erfahrungen, die dem Welt- und Menschenbild, das der Politik rechter Parteien und der Geisteshaltung ihres Personals zugrunde liegt, diametral entgegenstehen.
Lass uns ein Gedankenexperiment machen: Stell dir vor, unser Gesellschaftssystem, gerne auch das Zusammenleben aller Menschen, würde sich am Ideal einer Jazzband-Performance orientieren:
- Jeder Einzelne ist gleich wichtig.
- Mal trittst du und dein Beitrag prominent hervor, mal unterstützt du nach besten Kräften.
- Du hörst allen anderen permanent aufmerksam und unvoreingenommen zu, bevor du angemessen reagierst.
- Kein Platz für Ego-Shooter. Weil alle immer das große Ganze im Auge (bzw. Ohr ;)) behalten, versucht jeder, den anderen gut dastehen (klingen) zu lassen.
- Man hilft sich gegenseitig: Die Schlagzeugerin mit einem Fill-In dem Sänger, den Wiedereinstieg ins Thema zu finden und der Gitarrist dem Keyboarder nach dem fünften Zombie an der Bar, sein Hotelzimmer zu finden.
- Hautfarbe, Herkunft, soziale Schicht? Sind kein Kriterium.
- Die Mischung unterschiedlicher Stile sowie musikalischer Traditionen wird grundsätzlich als spannend und interessant angesehen, auf jeden Fall ist sie einen Versuch wert und wird als Chance (statt als Bedrohung) wahrgenommen. Das Fremde befremdet nicht.
Wie klingt das für dich? Nicht gerade wie das Wahlprogramm der AFD, oder? Wobei, was im Wahlprogramm der AFD über Zombies und andere Cocktails steht, weiß ich jetzt nicht, so weit bin ich da nicht vorgedrungen und im Wahl-O-Mat gab es auch keine diesbezügliche Frage…
Alles, was ich als Musiker weiß: Musizierend verbringen wir eine gnadenvolle Zeit, in der wir (und unsere Zuhörer!) miteinander und zusätzlich mit etwas Größerem, in jeder Hinsicht “Unfassbarem” verbunden sind, genreübergreifend und jenseits aller stilistischer Grenzen. Musik machen oder ihr im Publikum zu lauschen ist das Gegenteil von Trennung, ein (nicht verschreibungspflichtiges!) Heilmittel. Gegen das permanente Denken, den Irrsinn, die Lügen, die Selbstzweifel, das In-die-Welt-geworfen-Sein. Was mich betrifft, unter optimalen Bedingungen sogar gegen den leeren Kühlschrank.
Sicher, auch Leute die Rechtsrock machen und Nazisongs brüllen, fühlen gemeinsam mit ihrem Publikum Verbundenheit mit etwas “Größerem”. Zum Beispiel ihrer vermeintlichen rassischen Überlegenheit oder dem „GröFaZ“, dem “Größten Feldherrn aller Zeiten” (du weißt schon, der kleine Braune aus Braunau, Braunaus Brownest, den wir trotzdem fast nur in Schwarz-Weiß kennen, grisselig und gruselig). Simple Gemüter, denen die Welt ein paar mal zu oft gespiegelt hat, dass sie unzureichend und nicht weiter wichtig sind, greifen zu, wenn man ihnen vermeintliche einfache Lösungen für ihre Misere anbietet, in denen aber bitte auf keinen Fall sie selbst, sondern immer Andere das Problem sind.
Die Verbundenheit, die ich meine ist freilich von einem anderen Schlag. Vor allem ist sie nicht erbärmlich, Menschen verachtend und gefährlich.
Ich bin sicher, es würde der Welt guttun, wenn mehr Menschen die Chance hätten, positive Erfahrungen bei Tätigkeiten zu sammeln, bei denen…
- es keine Abkürzungen gibt
- nicht Höher-Schneller-Weiter das Maß aller Dinge ist
- Ich gegen Dich keinen Sinn macht
- es kein Ihr gibt, auf das permanent mit dem Finger gezeigt wird
- das Wir eines ist, das alle einbezieht, anstatt implizit alle Andersartigen auszuschließen
Und so gibt es dort schon gar nicht das dumpfbayerische, ins halbleere (niemals halbvolle!) Weißbierglas gegrantelte “Mia san Mia” (Bayerisch <> Deutsch: “Wir sind Wir”). Tut mir leid, dass es euch ausgerechnet ein zugereister Hanseat sagen muss, aber diese Geisteshaltung ist exakt das, was die Welt anno 2025 nicht braucht, ein Armutszeugnis und an Borniertheit schwer zu toppen.
Wahrscheinlich unterschreibt Markus Söder als regelmäßiger Leser von Blog around Sound gerade das Dekret, das meine Remigration in die Freie und Hansestadt Bremen verfügt. Obwohl es gut sein kann, dass das für ihn nach dem neuerlichen SPD-Sieg bei der dortigen Bürgerschaftswahl kein sicheres Herkunftsland ist…
Was Markus und das CSU-Politpersonal aber auf jeden Fall unterschreiben, ist eine Zusammenlegung (also de facto Kürzung) ausgerechnet der kreativen Fächer Kunst und Musik (!) zugunsten von Mathematik und Deutsch in der Grundschule! Denn letztere sind pisa-relevant, und deutsche Schülerinnen und Schüler schneiden in diesem Eurovision Wrong Contest traditionell eher grottig ab.
Auf gar keinen Fall hingegen darf in Bayern das Fach Religion angetastet werden. Mal ein konstruktiver Vorschlag: Wie wäre es statt dessen mit einem Fach “Spiritualität”? Darin könnten Grundschülerinnen und Grundschüler die verschiedenen Religionen der Welt in Grundzügen kennen lernen. Was sie unterscheidet, aber vor allem, was sie verbindet. Denn ihr gemeinsamer Kern ist doch, dass wir uns die Existenz der Welt nicht erklären können, aber spüren, dass es etwas Größeres hinter den Dingen gibt (das nicht Markus Söder heißt). Ich bin sicher, das kann man so aufbereiten, dass es auch Sechs- bis Zehnjährige verstehen.
Erfahren könnten sie es durch Kunst und Musik!
Tja.
Schade, dass in der Pisa-Studie nirgends soziale Kompetenz, Kreativität und Empathiefähigkeit eine Rolle spielen. Sie sollten es, dort, in der Welt und vor allem bei politischen Entscheidungsträgern! Ich habe den Eindruck, davon sind wir im Moment so weit entfernt wie noch nie in meinem Leben (*1963).
Oje, das ist kein schönes Ende für einen Blogartikel. Deshalb lasset uns mit einem Gebet schließen:
Mit Blues hat es angefangen, Blues ist jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen.
Lais, Cornelia
März 11, 2025
So viele gute Gedanken! Danke Volker!
liebe Grüße von Conni
Volker Giesek
März 11, 2025
Danke, Conni, freut mich, dass dir der Artikel getaugt hat!