Schon vor einiger Zeit hatte ich einen Song (im 3/4-Takt) über Perfektionismus geschrieben. Aber ich war nie ganz zufrieden damit – wie es sich bei einem Song über Perfektionismus ja auch gehört.

Gegen einige Zeilen in der Bridge hat sich etwas in mir gesträubt.

Zu klischeehaft, schlageresk, oberflächlich.

Ein bisschen war es wie nach einem Besuch bei McDonald’s: Mein Magen ist (bzw. die Zeilen sind) gefüllt, aber die Seele bleibt ungenährt und ich fühle mich latent schuldig:

Nie verbissen vorn sein müssen
Gut ist das neue Perfekt
Komm, wir türmen, wir Zwei
Aus dieser Mühle
Ich fühle
Jetzt ist die Zeit

Ähömm… Verstehst du, was ich meine? Die ersten zwei Zeilen sind super, aber dann zuerst ein floskelhafter Metaphern-Fail, gefolgt von Klischee-Alarm bei Ich fühle / Jetzt ist die Zeit.

Nun, die Zeit für den Song war dann jedenfalls im Februar, da geplante Studioaufnahmen mit meiner Band Colorbox (aus privaten Gründen bei einem der Bandmitglieder) leider abgesagt werden mussten.

Und so habe ich mir das Lied noch einmal vorgenommen, die Bridge umgeschrieben, an der Musik gefeilt und den Klavier-Part ausgearbeitet.

Schließlich habe ich genau an jenem Wochenende, an dem wir im Studio gewesen wären, eine Piano / Vocal-Version bei mir zu Hause aufgenommen – und das sicher nicht perfekt… ;))


Der Auslöser für den Songtext waren Schülerinnen und Schüler der BFS für Musik München (wo ich Dozent bin), die offensichtlich und nach eigenen Aussagen unter ihrem Perfektionismus leiden. Mit einigen von ihnen habe ich nach Prüfungen oder im Unterricht darüber gesprochen.

Solche Gespräche werden häufiger.

Damit liegt die BFS im Trend, weltweit nimmt die Zahl psychischer Probleme und Erkrankungen zu, gerade auch bei jungen Menschen.

Das wundert mich nicht.

Wir leben in Zeiten multipler Dauerkrisen, der Erosion von Wahrhaftigkeit als sittlich-moralischer Maxime sowie bröckelndem gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Alle, deren Welt- und Selbstbild gerade auf wackeligen Beinen steht, haben mein vollstes Verständnis.

Auch ich fühle mich zwischendurch mental hoffnungslos überfordert.

Aber statt das Hirn wann immer es möglich ist zu entgiften und ihm Ruhe und Erholung zu gönnen, scrollen viele, einerseits als Sklaven der Neugier, andererseits zur ständigen Selbstvergewisserung, endlos durch Statusmeldungen, News- und “Social”-Media-Feeds, sind täglich grundlos postend Teil des Problems und vergleichen sich, in grotesker Selbstüberhöhung, als vermeintliche „Personenmarke“ laufend mit der ganzen Welt, anstatt lediglich ab und zu im persönlichen Umfeld zur Orientierung entspannt nach rechts und links zu schauen.

Inkonsequent, wie ich bin, habe auch ich es bisher (ich rede mir ein aus professionellen Gründen) nicht geschafft, sämtliche Social Media-Aktivitäten komplett einzustellen und meine Accounts zu löschen.

Ach, wäre das herrlich, diese Ruhe, nur noch mein Tinnitus und ich!

Vielleicht muss man aber auch gar nicht so weit gehen. Wem jedoch kein reflektierter Umgang mit der digitalen Selbstdarstellung gelingt, entscheidet sich gnadenlos überlastet aktiv für noch mehr Überlastung.

Würde es nicht so melodramatisch klingen, könnte man sagen, auf die Weise schaufeln wir uns unser eigenes mentales Grab.

Fest steht:

Wir finden inzwischen leichter zu allen anderen als zu uns selbst.

Verrückt, nicht?


Besonders für Perfektionisten führt der ständige Vergleich mit weltweiter vermeintlicher Konkurrenz, bei dem sie naturgemäß nur verlieren können, nicht selten zum Hochstapler– oder Impostor-Phänomen.

Dabei zweifeln Betroffene permanent an sich selbst, obwohl sie von ihrer Umwelt gespiegelt kriegen, dass sie als kompetent und bereichernd wahrgenommen werden.

Sie denken, sie hätten ihren Erfolg nicht ihren Fähigkeiten zu verdanken, sondern einfach Glück gehabt.

Jeden Moment droht die eigene Inkompetenz enttarnt zu werden.

Lob kann nicht ehrlich gemeint sein. Und wenn doch, beweist es nur die mangelnde Fachkenntnis der lobenden Person.

Misserfolge sind innerhalb dieses Mindsets lediglich ein zu erwartender Beweis für das eigene Unvermögen.

So kann man sich nie selbst genügen.

Daraus resultieren ständige Anspannung, Angst, Frustration und Niedergeschlagenheit, im schlimmsten Fall Depression und Burnout – mächtige, gefährliche Lebensfreude-Vernichter, und in der Welt der Musik im wahrsten Sinne des Wortes „Spiel-Verderber“.

Da unser Berufsbild als Musikschaffende im Wesentlichen daraus besteht, uns selbst, unsere Kreationen und Fähigkeiten immer wieder (womöglich sogar gegen Eintritt, Gage oder Gehalt) zur Schau und damit zur Diskussion zu stellen, schnappt die Impostor-Falle bei uns besonders leicht zu.

Das ist nicht schön. Aber mit etwas Arbeit, eventuell Hilfe, kommt man dort auch wieder heraus.

Ich habe da meine Erfahrungen.

So geht der Song raus mit einem Gruß an mein jüngeres Ich, aber auch an Teile meiner Familie, an Kollegen, Freunde, Bekannte. Nicht zuletzt an mich heute (auf dass ich den Hook stets beherzige!) – und natürlich dich, wenn dir etwas davon bekannt vorkommt (oder du einfach die Musik schön findest).

In diesem Sinne, im Chor:

Ab jetzt wird kein Makel versteckt
Durch Fehler wird Gutes perfekt

Unbekannter Singer-Songwriter des frühen 21. Jahrhunderts

Perfekt

Stirn an der Wand
Rauhfaserland
Du fasst dir ein Herz
Doch dein Herz ist aus Sand

Viel Drängelei
In der Aufschneiderei
Tadellos
Virtuos
Sandherzen schmerzen (Sandherzenschmerzen)
Die wird man so schnell
Nicht los

Gib nicht auf und gib nicht an
Ungeschminkt gewinnt
Sieh dir an, was Liebe kann
Ab jetzt wird kein Makel versteckt
Durch Fehler wird Gutes perfekt

Tränen und Schweiß
Drehst dich im Kreis
Statt locker zu gleiten
Bohrst du dich ins Eis

Allen geht’s fein
Wie kann das sein?
Schlank und schön
Fotogen
Nicht zehn Beichten täglich reichten
All den Fake
Zu gestehen

Gib nicht auf und gib nicht an
Ungeschminkt gewinnt
Sieh dir an, was Liebe kann
Ab jetzt wird kein Makel versteckt
Durch Fehler wird Gutes perfekt

Nie verbissen vorn sein müssen
Gut ist das neue Perfekt
Komm, entspann dich, und dann
Reiß sie vom Hocker
Ganz locker
Mit achtzig Prozent, aber

Gib nicht auf und gib nicht an
Ungeschminkt gewinnt
Sieh dir an, was Liebe kann
Ab jetzt wird kein Makel versteckt
Durch Fehler wird Gutes perfekt
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