Die Einschläge kommen näher.

Das ist in diesem Fall keine Kriegsrhetorik, vielmehr ist vergangene Woche jemand gestorben, der mir musikalisch Inspiration und Vorbild war: Burt Bacharach.

Seine Vorfahren waren deutsche Auswanderer, die vom schönen Städtchen Bacharach am Rhein (s. Beitragsbild) in die USA emigriert sind.

Er selbst war Jahrgang 1928 (mein Vater war Jahrgang 1929) und ist 94 Jahre alt geworden, ich bin 1963 geboren. Mehr sag ich nicht, mein Alter musst du selber ausrechnen, es ist schlimm genug… ;)).

Auf die traurige Nachricht hin schoss mir eine morbide Erkenntnis durch den Kopf, und ich sage am Frühstückstisch zu meiner Frau: Krass, meine Eltern sind schon tot, jetzt sterben alle meine Vorbilder – und dann sterbe ich!

Ich hatte ehelichen Zuspruch erwartet, doch nachdem ich meinen Blick von der Unendlichkeit zurück auf die Mohnsemmel vor mir gesenkt hatte, meinte Annette, das sei nun wirklich keine allzu bahnbrechende Erkenntnis, sondern schlicht der Gang der Welt und mein Selbstmitleid ein bisschen „himimi“. Außerdem sei ja das Schöne bei Musikern (sie hat es dort am Frühstückstisch nicht gegendert, ich habe sie trotzdem lieb), dass deren Musik weiter lebt und Freude bereitet.

Das erscheint mir plausibel und tröstlich, denn es gilt ja für Burts und meine Musik gleichermaßen. Und für deine auch, so du welche machst und sie veröffentlichst.

Kinder und Kunstwerke sind Pfeile in die Zukunft, sie werden unter Schmerzen geboren und weisen über die eigene Lebensspanne hinaus.

Was die Musik betrifft, stimmt das mit den Schmerzen natürlich nicht immer. Manchmal flutscht es ja auch einfach so aus uns heraus. Ich schaue dann leicht verdattert, bekomme kurz Gänsehaut, wenn das Geflutschte gut ist, und bedanke mich demütig.

Letzteres möchte ich auch bei Burt Bacharach tun, denn das mit der verdatterten Gänsehaut passiert mir auch beim Hören seiner Songs immer wieder, weshalb man die wohl schon eher „Werke“ nennen muss.

Das erste Mal hat es (bzw. er) mich beim Fernsehen schauen Mitte der 1970er Jahre erwischt, und zwar mitten im Western-Drama Zwei Banditen (Butch Cassidy & Sundance Kid).

Da gibt es eine völlig von der übrigen Handlung abgekoppelte Szene, in der man Paul Newman (er ist im Film Butch Cassidy) und seine Filmpartnerin zur Musik von Raindrops Keep Falling On My Head unbeschwert auf ein und demselben Fahrrad durch schönste Natur eiern sieht.

Spätestens bei der Bridge („But there’s one thing I know…“) war es um mich geschehen. Ich war gleichzeitig traurig und fröhlich, auf bisher unbekannte Art zutiefst berührt – konnte ich schon so etwas wie melancholisch sein? Hätte es damals bereits Video-Technik gegeben und ich den Film auf einer VHS-Kassette angeschaut, ich hätte mindestens fünf Mal zurück gespult.

Gnadenvoller Weise ahnt man in den Jahren vor der Pubertät ja noch nichts von sich. Wenn dann das erste Mal getriggert wird, was in uns angelegt ist, kommt die Reaktion quasi aus dem Nichts und trifft uns mit derartiger Wucht, dass wir diesen Moment der Initiation sowie die ungeahnte Liebe, die dabei freigesetzt wird und uns überschwemmt, nie mehr vergessen. Raindrops Keep Falling On My Head ist immer noch einer meiner Lieblingssongs.

Was mich seit damals packt, sind vor allem Burt Bacharachs magische Melodien voll überraschender Wendungen. Ohrwürmer, für deren Mitsingen man sich nicht schämen muss, sondern stolz sein darf, wenn man es überhaupt hinkriegt. Denn Easy Listening ist hier alles andere als simpel. Vielmehr kommt das vermeintlich Einfache, da gnadenlos Eingängige, als Wolf im Schafspelz.

In den Songs von Burt Bacharach gibt es eingeschobene 2/4-Takte (I Say A Little Prayer, I’ll Never Fall In Love Again), Septakkorde, Impressionismus, Debussy, Ravel, Jazzzzz!, ungewöhnliche Songformen und Instrumentierungen (What’s New Pussycat), eine mitunter sehr spezielle Anzahl von Takten innerhalb eines Formteils (die 11-taktige Strophe von You’ll Never Get To Heaven [If You Break My Heart])Walzer (What The World Needs Now), Bossa Nova-Anleihen (Walk On By) und vieles mehr – ich finde das großartig und sitze gefühlt im selben Boot.

Im lesenswerten Nachruf von Oliver Hochkeppel in der SZ vom 10.02.2023 lese ich weitere Dinge, die ich sofort unterschreiben würde. So hat einst Darius Milhaud dem jungen Burt mit auf den Weg gegeben:

„Schäme dich nie für eine Melodie, an die man sich erinnern und die man pfeifen kann.“

Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Schreibe aber trotzdem weiter, denn bei einigen Sachen kann bzw. mag ich dem Meister dann doch nicht nacheifern.

Zunächst einmal hat der Mann 60 Top Forty-Hits geschrieben!

Lass uns ganz ehrlich zueinander sein: Das schaffe ich nicht mehr, ich bin zur Zeit bei Null (und wie alt ich bin, hast du ja schon ausgerechnet).

Auch vier Ehen sind wohl nicht mehr drin. Ich plane, es bei der aktuellen einen bzw. Einen zu belassen.

In dem Artikel steht auch, „kein Song [von Burt Bacharach] sei je aus einer blitzartigen Inspiration entstanden, jeden habe er mühevoll und langwierig erarbeiten müssen. (…) Er misstraue außerdem chronisch ersten Einfällen und feile unentwegt an den Melodien. Sein ganzes Leben lang habe er deshalb unter Schlaflosigkeit gelitten.“

Das finde ich interessant, denn meine Erfahrung lehrt mich, ersten Einfällen sehr wohl zu trauen. Zu 80 bis 90 % sind sie besser als die Ergebnisse meiner zweifelnden Knobelattacken. Gott ist schwer zu toppen. Aber Burt Bacharach auch. Hm, schwere Entscheidung…

Des Weiteren sind, wie bereits erwähnt, auch schon mal Dinge mühelos und ohne Schmerzen aus mir heraus gepladdert. In den seltenen Fällen, in denen das ein ganzer und dann auch noch guter Song war, war die Verdatterung komplett und die Größe der Goose Bumps meiner Gänsehaut ging Richtung Luftpolsterfolie.

Aber die Regel ist das nicht. Auch ich kenne die Rast- und Schlaflosigkeit, wenn der Normalfall eintritt, ich mit einem neuen Songbaby schwanger gehe und es überall mit hin trage. Es kostet viel konzentrierte Arbeit und braucht für gewöhnlich seine Zeit, etwas, das den eigenen Qualitätsansprüchen genügt, in die Welt zu setzen, manchmal sogar länger als neun Monate.

Es beruhigt mich, dass es auch Burt so ging. Und es macht sein Werk in gewisser Weise ja auch noch wertvoller, wenn er mit so viel Zeit- und Energieaufwand an seinen Kompositionen geschraubt und getüftelt hat.

In jedem Fall danke, Mr. Bacharach, für die Musik, die Inspiration und die Höhe der Messlatte, unter der ich Zeit meines Lebens mit dem allergrößten Vergnügen hindurch springen werde!

Einige werden jetzt sagen: Man kann nicht über Burt Bacharach schreiben, ohne seinen kongenialen Partner, den begnadeten Texter Hal David zu erwähnen.

Das stimmt, daher habe ich ihn erwähnt.

Aber das ist eine andere Geschichte.


Diese zwei Videos sind mir bei meiner „In Memoriam Burt Bacharach“-Recherche begegnet. Wenn du vom ersten, dem Tribute-Konzert im Weißen Haus, nur die Zeit hast, einen Song zu sehen: Nimm Alfie in der Interpretation von Stevie Wonder (ab 38:40), das Mundharmonika-Solo ist der Hammer!

Fake (und keiner ahnt was)
Liebeserklärungen

Volker Giesek

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