Am 9. Dezember dieses Jahres haben mein lieber Kollege, Freund, Schlagzeuger, Handwerker und begnadeter Koch Christian und ich unsere Kräfte und Freundeskreise gebündelt, um mit einem außerordentlich rauschenden Fest in der städtischen Kulturbühne Interim in München-Laim unseren jeweiligen 60. Geburtstag zu feiern.

Das war eine hervorragende Idee!

Wir kennen uns seit wir Anfang 20 sind, wie man auf dem Bild unten leicht erkennen kann, denn ein paar Ähnlichkeiten mit unseren jungen Versionen sind durchaus noch vorhanden. Zum Beispiel trage ich immer noch eine Brille, Christian hat immer noch fünf Finger an seiner rechten Hand und meine Frau hat auch nach Jahrzehnten gemeinsamen Ehelebens mit mir und meiner Künstlerseele das Lachen noch nicht verlernt (von links nach rechts: ich, Annette, Christian):

Ein paar Tage vor der Party hatten Christian und ich, zusammen mit unseren Frauen, für ca. 70 Gäste eingekauft. Meine Frau wäre nicht Annette, hätte sie nicht vor zehn Jahren, bei der gleichen Aktion zu unserem 50. Geburtstag, nach dem Fest auf der Einkaufsliste vermerkt, ob wir zu viel oder zu wenig von den einzelnen Posten gekauft hatten. Sie tat dies auf ikonische Weise: Pfeil nach oben = wir hätten mehr davon gebraucht, Pfeil nach unten = es hätte ruhig weniger sein dürfen. Einfach, genial, einfach genial!

Also mit Liste und in Feierlaune ab zu METRO und diversen anderen Quellen für Salami, Schinken, Lachs, eine sehr schwer fallende Käseauswahl, politisch korrekte Weintrauben (die bösen aus Brasilien, mit dem CO2-Fußabdruck eines Godzilla-Weibchens, sind zurück ins Regal gewandert!) Oliven und (trotz Pfeilen viel zu viel) Baguette. Komplettiert wurde das Ganze durch diverse Homemade-Buffet-Beiträge in Form von Quiches, Dips, Salaten, Teigschnecken, Süßspeisen (danke, danke, danke!). Christian hatte aus Italien Rotwein mitgebracht, ich war für den Weißwein zuständig. Hab ich was vergessen? Bestimmt.

Zum Beispiel den guten Marcus vom Interim, der uns schon vor einem knappen Jahr problemlos den Termin reserviert, jetzt ein Team für die Bar organisiert hatte und beim Aufbau am Nachmittag sowie während der Party am Abend ein Ausbund an Hilfsbereitschaft, Ruhe und Kompetenz war, was Tische, Stühle, Geschirr, Besteck, Gläser, Sound, Licht und Bühnenbelange betraf. Dass die Nutzung dieser kompletten Infrastruktur so überaus bezahlbar war, kann ich mir nur so erklären, dass jedes Drum-Fill und jedes Klaviersolo, das Christian und ich über die vergangenen Jahre bei diversen Konzerten im Interim in den Raum und zur Diskussion gestellt haben, sich direkt bonitär auf die Gesamtrechnung auswirkten.

Das Fest selbst werden Christian und ich bestimmt nicht vergessen (zumindest solange uns die Gnade der Erinnerung bleibt). Dem Vernehmen nach gilt das auch für den einen oder die andere, die mitgefeiert haben. Da naturgemäß etliche Musikerinnen und Musiker anwesend waren, gab es viel Live-Musik in abwechslungsreichen, spontanen Kurz-Sessions (fetter Dank an euch alle!). Dabei am meisten überrascht haben mich die „Söhne“ (nicht Mannheims, sondern von Angie & Christian sowie Annette & Volker): Sohn Marian (Bass) und Sohn Luis (Klavier) zusammen mit meinem Sohn Manuel, der eine astreine Groove-Basis auf der Cajon gelegt hat.

Erwachsene Kinder zu haben ist cool. Erwachsene musikalische Kinder zu haben ist sehr cool!


Für mich den Vogel abgeschossen hat dann aber mein längster (und damit ist jetzt nicht die Körpergröße gemeint) und bester Freund Andy, der extra, zusammen mit seiner Frau Andrea (Andreas und Andrea – ist das nicht schön?), aus meiner Heimatstadt Bremen angereist ist. Das allein ist schon ein Statement. Umso mehr, da sie am Abend vorher seinen 60. Geburtstag gefeiert hatten und sich nach ein paar lächerlichen Stunden Schlaf in den Flieger geschwungen haben, um bei mir dabei zu sein. Als wäre das nicht genug, haben beide im Verlauf des Abends auch noch mitreißend auf der Bühne performt, beide auf ihre ganz eigene Weise!

Andy und ich kennen uns seit 50 (!) Jahren, also seit wir zehn Jahre alt sind. Ab der 5. Klasse haben wir zusammen Musik entdeckt und gemacht, gestritten, uns versöhnt, eine Schülerband gegründet und sie ehrgeizig zu einem 1. Preis beim Nachwuchswettbewerb von Radio Bremen geführt. Gemeinsame Urlaube, heiße Diskussionen, lebensbedrohliche Lachkrämpfe, Fan sein und bedingungslose Begeisterung in rauch- und rausch-geschwängerten Jugendzimmern haben uns zusammengeschweißt. Dabei ist die Naht kaum zu sehen, wir sind fast wie Brüder und haben es geschafft, den Kontakt über all die Jahrzehnte nicht abreißen zu lassen.

Schon damals waren wir etwas speziell, denn wir haben in unserer Schülerband-Karriere nicht einen einzigen Coversong gespielt, sondern mit 15 gleich angefangen, eigene Stücke zu komponieren. Das klang dann anfangs natürlich entsprechend, aber wir hatten Welpenschutz, die Mädchen haben uns trotzdem auf dem Schulhof angesprochen (so weit lief also alles wie geplant), die Ambitionen waren groß und die Lernkurve in den folgenden knapp vier Jahren steil. Dann bin ich 1983 nach München gezogen, um an der dortigen Jazz School zu studieren und zu schauen, ob es irgendeine Chance gibt, von der Musik und damit meinen Traum zu leben.

Was soll ich sagen? Hat geklappt :)).

Andy ist in Bremen geblieben, hat es zum Chef-Anästhesiepfleger gebracht und ist nebenbei ebenfalls immer der Musik treu geblieben.

Wie damals unsere Band und wir war jetzt auch Andys Geschenk zu meinem Geburtstag speziell, er hat mir nämlich ein Lied geschenkt. Ein eigens komponiertes (natürlich, keine Cover!) mit einem Text über unsere Freundschaft, das er in seiner grandios ehrlichen und entwaffnenden Art allein auf der Bühne dem versammeltem Publikum dargeboten hat. Auf einer eigens im Handgepäck mitgeführten Klappgitarre. Er sei aufgeregt, hat er zu Beginn gesagt, den Song einem Fachpublikum aus Jazz-Aktivisten und -Fans vorzuführen. Der Text war eine toll zusammengestellte Sammlung von Situationen und Stichwörtern, die sich zwar nur dem Kenner (also mir) zur Gänze erschlossen. Da aber jede Pubertät voll extremer Gefühlslagen, Anglizismen und Größenwahn ist, kam die Kernaussage wohl bei fast allen an. Und die war nichts weniger als eine musikalische Liebeserklärung und Feier unserer Freundschaft.

Aber entscheidender und sehr lehrreich war etwas anderes.

Bei vielen, mit denen ich gesprochen habe, hat Andys Performance einen bleibenden, positiven, herzerwärmenden, durch und durch sympathischen Eindruck hinterlassen, obwohl sie rein musikalisch betrachtet sicher nicht perfekt war.

Aber sein Umgang damit war es.

Andy war nervös und hat das gesagt und gezeigt. Er war für alle Anwesenden somit offiziell verletzlich, keine coole Socke. Davon hat er sich aber in keinster Weise beirren lassen, weil ihm etwas wichtiger war. Etwas sehr Anrührendes obendrein, nämlich mir sein Lied zu singen. Fehler wurden charmant kommentiert und – simsalabim – sie waren kein Bug mehr, sondern ein Feature. Aus Minus mach Plus. Statt krampfhaft zu versuchen, Kontrolle zu simulieren, hat Andy zugegeben, dass er sie gerade nicht zu 100% hat und damit mehr Sympathiepunkte gesammelt als mit einer perfekten, makellosen Profi-Performance. Mit anderen Worten, es hat gemenschelt und er war authentisch. Und mutig. Was sind das noch mal für Figuren im Kino und Roman, so ganz normale Leute, die angesichts besonderer Herausforderungen über sich, ihre Schwächen und Ängste hinauswachsen und es allen zeigen? Genau: Helden!

Was Nervosität und Lampenfieber betrifft, macht es vielleicht gar keinen so großen Unterschied, ob man derjenige ist, der seinem besten Freund auf einer Party musikalisch sein Herz ausschüttet, einer, der eine Theaterpremiere vor vollbesetztem Haus und versammelter Lokal-Presse musikalisch leitet oder jemand, der in der Carnegie Hall Rachmaninoffs 3. Klavierkonzert gibt. Nur mit einem dieser Dinge kenne ich mich aus… Kleiner Tipp: Der mit dem Klavierkonzert kann ich nicht sein. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Nie werde ich es mit Rachmaninoff schaffen, weder in die Carnegie Hall noch auf den Geburtstag eines Freundes. Zunächst einmal natürlich, weil ich dafür viel zu schlecht Klavier spiele. Nein, das ist kein „Fishing for compliments“, wir wollten lediglich den Tatsachen ins Auge sehen, erinnerst du dich?

Aber was ist, wenn ich die technischen Voraussetzungen gehabt hätte? Wäre ich dann möglicherweise ein klassischer Pianist geworden? Ganz sicher nicht! Der Druck wäre mir viel zu groß in einem Genre, in dem das Publikum eher Makelloses erwartet, als noch so sympathische Kommentare, wenn eine 64tel-Oktavlauf-Passage mit Sprüngen, Tod und Teufel nur so semi gelingt. Ich neige mein Haupt in tiefstem Respekt vor allen, die solches musikalisch und psychisch gebacken kriegen. Ich werde auch weiterhin euer Können, euer Spiel und die Kompositionen derjenigen, die ihr interpretiert in Demut feiern und genießen!


Ich für meinen Teil brauche weniger Angst-Potential, dafür mehr Freiheit und Möglichkeiten, bei meinen kreativen Exkursionen persönlich sichtbar zu werden:

  • Hier sind ein paar Tonhöhen, rhythmisch sehr einfach notiert. Mach was Interessantes draus… (Leadsheet aus dem „Real Book“)
  • Hier sind ein paar Buchstaben, manchmal ergänzt um ein kryptisches Zeichen. Du musst entscheiden, wie du das auf dein Instrument überträgst. Es gibt Dutzende von Möglichkeiten… (Akkordsymbole)
  • Eigentlich ist das ein Up-Tempo Swing-Stück, aber lass es uns mal als langsamen Bossa probieren…
  • Ich habe zu der Akkordfolge von diesem Stück hier eine neue Melodie erfunden, cool, oder?
  • Ich habe einen alten Standard reharmonisiert, also zu der Melodie neue Akkorde gefunden, jetzt klingt der ganz anders…
  • Ich spiele Bach mit Swing-Feeling und improvisiere drüber.
  • Improvisier, improvisier…, autsch, dieser Zielton klingt definitiv daneben! Einfach einen Halbton höher oder tiefer spielen, und die Niederlage ist in einen Sieg verwandelt.

Do not fear mistakes. There are none.

(Hab keine Angst vor Fehlern. Es gibt keine.)

Miles Davis
  • Hm, vielleicht findest du ja einen Ton, der über alle Akkorde (oder zumindest die meisten), über die du improvisieren sollst, passt. Spiel doch einfach immer nur den und schau, dass du rhythmisch stark bist, gut phrasierst und artikulierst. Viel wichtiger als was du spielst, ist, wie du es spielst!
  • Cool, der Trompeter spielt gerade nur Offbeats während seines Solos, vielleicht kann ich ihn unterstützen, indem ich da mitmache. Here we go: m-TA-m-TA-m… Oh shit, er hat schon wieder damit aufgehört… na gut, nächstes Mal mehr davon… (Interplay).
  • Das ist im Original von einem Klaviertrio, aber hier ist meine Bigband-Version!
  • Du darfst jederzeit klatschen, rufen, mit den Füßen stampfen oder sonstwie Geräusche machen, wenn die musikalische Darbietung dich mitreißt und es einfach sein muss.
  • Durch deine Ansagen, deine Kleidung, deinen Gestus kommunizierst du mit dem Publikum auf zusätzlichen verbalen und nonverbalen, individuellen Ebenen neben der musikalischen.
  • Wenn du willst, darfst du dich auf der Bühne wie auch im Publikum jederzeit passend zur Musik bewegen.

Da würde noch mehr gehen, sicher fällt dir noch etwas ein, aber es ist schon spät und ich wette, du hast verstanden, auf was es hinausläuft: In den Genres, die ich liebe, schlägt im Zweifelsfall persönlicher Ausdruck makellose Virtuosität. Technik dient lediglich dem Ziel, einem facettenreichen kreativen Fluss möglichst wenig Steine in den Weg zu legen und nicht der repetitiven, mehr oder weniger exakten Reproduktion von Erfindungen anderer Leute. Im Jazz, Rock, Pop- und Singer-Songwriter-Genre bringt jeder etwas Anderes – nämlich sich! – mit an den Tisch. Und somit seine ganz persönliche Art, sich musikalisch und textlich auszudrücken. Das zieht mich unwiderstehlich an.


Meine Frau meinte gerade beim Abendessen (Nudelauflauf mit Lauch und Speck… lecker!), vielleicht müsste sich einfach mal jemand trauen und es ausprobieren, ein klassisches Konzert mit „Fehlerkommentaren“ sowie Ansagen und Applaus-Erlaubnis zwischen einzelnen Stücken oder Sätzen zu geben. Das scheint mir ein interessanter Gedanke. Vielleicht ist es an der Zeit, zu experimentieren und Neues zuzulassen. Eine klassische Musikerin würde dem vielleicht entgegen halten, dass sie dann aus der Konzentration falle, die sie überhaupt erst in die Lage versetzt, auf einem derart hohen Niveau zu musizieren. Das mag sein.

Auch soll ja die Persönlichkeit des klassischen Musikers weitgehend hinter dem Komponisten und seinem Werk zurücktreten. So bleibt den ausschließlich Interpretierenden bei all der Noten- und Werktreue lediglich eine Art „Überwältigungs-Strategie“, um im Hinblick auf ihre Persönlichkeit zu punkten: „Grandios, so musikalisch, virtuos, brillant, und alles auswendig, schier unglaublich und geradezu übermenschlich!“ Wahrscheinlich oute ich mich gerade als Kunstverächter und Trampeltier, dem ein unendliches Spektrum feinster Nuancen auf ewig verschlossen bleibt, aber es interessiert mich halt nur so mittel, ob Musikerin XX die Durchführung um einiges verhaltener und träumerischer anlegt als Musiker XY, der dafür aber in der Reprise die Melodie in der linken Hand mit einer Spur mehr Legato ausstattet als allgemein üblich. Dagegen, derartiges zu bemerken und zu formulieren, ist nichts zu sagen (vor allem, wenn es stimmt). Es entspricht nur nicht meinem Ideal eines kreativen Lebens, so wenig Spielraum zu haben. Schon gar nicht, wenn es auf der anderen Seite Musik gibt, bei der ganz im Gegenteil Persönlichkeit, eigene Kreativität, der Personalstil der Ausführenden das A & O sind und das ganze Genre auch noch laufend von seinen Protagonisten bereichert, verändert und weiterentwickelt wird.

Aber versteh mich nicht falsch. Das soll kein Klassik-Bashing sein und ich werde mich hüten, hier irgendwelche Fronten zu eröffnen. Davon gibt es momentan schon zu viele auf der Welt. Ich wollte lediglich erklären, was mich an der Musik, die ich mir für mein Leben ausgesucht habe, besonders fasziniert.

Letztendlich ist es wunderbar und bereichernd, dass (auch musizierende) Menschen so unterschiedlich sind.

Wenn alle Musikerinnen und Musiker so wären wie ich, wem würde ich dann stehend applaudieren, nachdem er mich mit seinem Rachmaninoff–Liszt–Beethoven-Abend, seiner Virtuosität und Musikalität komplett von den Socken gehauen und mir ganz nebenbei das Genie Rachmaninoffs, Liszts und Beethovens eindrücklich vor Ohren geführt hat?

Und wer hätte mir in einer Welt, die ausschließlich musikalische Perfektion zulässt, das Geburtstagslied gesungen?

Wie schön, dass wir uns haben – und die Musik, die wir machen und hören: Klassik, Rock, Pop, Jazz, Klezmer, Country, Musical, Oper, Zwölftonmusik, Elektro, Hip Hop, Trip Hop, Tri Top, Bebop, Krautrock, Free-Jazz, Funk, Soul…, …Schlager… ist drin, Rechtsrock ist raus!


What The World Needs Now – zum Tod von Burt Bacharach
Tonbilder – The Call of Beauty

Volker Giesek

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